Boris Pasternak
Truppenteils, zu dem er kommandiert
war, lag in den Karpaten, in einem Talkessel, dessen Zugang von der ungarischen
Tiefebene her diese Abteilung zu sperren hatte.
Auf dem Grunde des Talkessels
befand sich eine Eisenbahnstation. Shiwago beschrieb Gordon die Gegend, die
Berge mit den mächtigen Tannen und Kiefern, in deren Wipfeln Wolkenfetzen
hingen, die senkrechten grauen Schiefer- und Granitfelsen, die aus den Wäldern
hervortraten wie kahlgescheuerte Stellen in einem dichten Fell. Es war ein
feuchter dunkler Aprilmorgen, grau wie der Schiefer, von allen Seiten eingeengt
durch die Höhen und daher mit unbeweglicher, stickiger Luft. Es dampfte. Dunst
stand über dem Talkessel, und alles rauchte, alles strömte aufwärts, der
Lokomotivqualm von der Station, die graue Ausdünstung der Wiesen, die grauen
Berge, die dunklen Wälder, die dunklen Wolken.
In diesen Tagen unternahm der
Zar eine Fahrt durch Galizien. Plötzlich wurde bekannt, daß er die hier
stationierte Einheit besuchen würde, deren Chef er war.
Er konnte jeden Moment
eintreffen. Auf dem Bahnsteig trat zu seiner Begrüßung eine Ehrenwache an.
Eine, zwei Stunden vergingen in quälendem Warten. Dann trafen in rascher Folge
die beiden Züge der Suite ein. Ein wenig später kam der Zug des Zaren.
In Begleitung des Großfürsten
Nikolai schritt der Zar die Front der Grenadiere ab. Jedes seiner leisen
Begrüßungsworte löste hochschwappende Explosionen donnernder »Hurras« aus, so
wie Wasser in einem schaukelnden Eimer hochschwappt.
Der verlegen lächelnde Zar
wirkte älter und verbrauchter als auf den Rubeln und Medaillen. Sein Gesicht
war welk und ein wenig gedunsen. Immer wieder blickte er zum Großfürsten hin,
wenn er nicht wußte, was unter den obwaltenden Umständen von ihm erwartet
wurde, dann beugte sich Nikolai Nikolajewitsch ehrerbietig zu seinem Ohr und
half ihm, nicht einmal mit Worten, sondern mit einer Bewegung der Braue oder
der Schulter, aus der Verlegenheit.
Der Zar weckte Mitleid an
diesem warmen grauen Morgen in den Bergen, und es wurde einem unheimlich bei
dem Gedanken, diese furchtsame Zurückhaltung und Schüchternheit könnte das
wahre Wesen des Unterdrückers sein, und mit dieser Schwäche richte und
begnadige, fessele und befreie er.
»Er mußte etwas sagen wie:
Ich, mein Schwert und mein Volk, so wie Wilhelm, oder irgendwas Ähnliches.
Unbedingt vom Volk, das hätte er tun müssen. Aber verstehst du, er stand so
ganz russisch auf natürliche und tragische Weise über solchen Banalitäten. In
Rußland ist Theatralik ja undenkbar.
Es ist doch Theatralik, nicht
wahr? Ich verstehe noch, was zu Casars Zeiten Völker waren, nämlich Gallier
oder Sueven oder Illyrer. Seit damals aber ist das doch nur noch eine
Erfindung, damit Zaren und Könige und Staatsmänner in ihren Reden sagen können:
Volk, mein Volk.
Die Front ist von Korrespondenten
und Journalisten überschwemmt. Sie notieren >Beobachtungen<, Aussprüche
der Volksweisheit, sie sehen sich die Verwundeten an und basteln an einer neuen
Theorie von der Volksseele. Diese Sorte sieht sich als eine Art neuer Dal,
linguistischeGraphomanie aus philologischer Schließmuskelschwäche. Das ist der
eine Typ. Es gibt noch einen anderen. Abgehackte Sprache, >Striche und
kleine Szenen<, Skeptizismus, Misanthropie. Bei einem zum Beispiel habe ich
solche Sentenzen gelesen: >Ein grauer Tag wie gestern. Schon am Morgen
Regen, Schlackerwetter. Ich sehe durchs Fenster auf die Straße. Auf ihr ziehen
endlose Kolonnen von Gefangenen dahin. Verwundete werden gefahren. Eine Kanone
schießt. Sie schießt heute wie gestern, morgen wie heute, und so geht das jeden
Tag und jede Stunde.. .< Überleg bloß mal, wie witzig und scharfsinnig!
Warum ist er böse auf die Kanone? Was ist das für ein seltsamer Anspruch, von
einer Kanone unterschiedliches Schießen zu verlangen! Warum wundert er sich
nicht lieber über sich selbst, weil er tagaus, tagein Aufzählungen, Kommata und
Phrasen abfeuert, warum stellt er das Schießen mit journalistischer
Menschenliebe nicht ein, was bei ihm so hastig geht wie das Hüpfen der Flöhe?
Wieso begreift er nicht, daß nicht die Kanone, sondern er immer wieder neu sein
muß und sich nicht wiederholen darf, daß aus der Ansammlung einer Menge von
sinnlosem Zeug in seinem Notizbuch niemals ein Sinn hervorgehen kann, daß es
keine Fakten gibt, solange der Mensch ihnen nicht etwas von sich, ein Teilchen
eigenständigen menschlichen Genies, ein Teilchen von einem Märchen
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