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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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aber guckte immer
noch.
    Plötzlich verzerrte sich ihr
Gesicht vor Entsetzen.
    »Was macht ihr da? Seid ihr
verrückt?« rief sie zwei Leichtverwundeten zu, die ohne fremde Hilfe zwischen
den Tragen hindurchgingen, lief aus dem Zelt und stürzte zu ihnen.
    Auf einer der Tragen lag ein
Unglücklicher, der besonders grauenhaft und ungeheuerlich verstümmelt war. Das
Bodenstück einer krepierenden Granate hatte ihm Gesicht, Zunge und Zähne in
blutigen Brei verwandelt, ohne ihn jedoch zu töten, und war im Kieferknochen an
der Stelle der weggerissenen Wange steckengeblieben. Mit dünner Stimme, die
nichts Menschliches hatte, ließ der Verstümmelte immer wieder ein kurzes,
abgerissenes Stöhnen hören, das jedermann als flehentliche Bitte verstehen
mußte, ihm den Tod zu geben und seine unvorstellbaren Qualen zu beenden.
    Die Schwester hatte geglaubt,
die beiden Leichtverwundeten hätten unter dem Eindruck seines Stöhnens den
entsetzlichen Eisensplitter mit bloßen Händen aus seiner Wange ziehen wollen.
    »Was macht ihr, das geht doch
nicht! Das muß der Chirurg tun, mit besonderen Instrumenten. Wenn es überhaupt
noch dazu kommt.« (Herrgott, nimm ihn zu dir, zwinge mich nicht, an deiner
Existenz zu zweifeln!)
    Im nächsten Moment, als der
Verstümmelte die Stufen hinaufgetragen wurde, schrie er laut, zuckte mit dem
ganzen Körper und gab seinen Geist auf.
    Der tote Verstümmelte war der
Gemeine der Reserve Himasetdin, der Offizier, der im Wald herumgeschrien hatte,
war sein Sohn, Leutnant Galiullin; die Schwester war Lara, Gordon und Shiwago
hatten alles mit angesehen, sie alle waren auf kleinem Raum beisammen gewesen
und hatten sich nicht erkannt, die anderen hatten sie nie gekannt; das eine
blieb für immer ungewiß, das andere wartete bis zur nächsten Gelegenheit, bis
zur neuen Begegnung auf die Enthüllung.
     
    In dieser Gegend waren auf
wundersame Weise Dörfer erhalten geblieben. Sie bildeten eine heile Insel in
dem Meer der Zerstörungen. Gordon und Shiwago fuhren abends nach Hause zurück.
Die Sonne ging unter. Als sie durch eines der Dörfer kamen, sahen sie, wie ein
junger Kosak unter dem Gejohle der Umstehenden einen graubärtigen alten Juden
in langem Kaftan zwang, eine Kupfermünze zu fangen, die er hochwarf. Der Alte
griff immer wieder daneben. Die Münze flog an seinen kläglich ausgestreckten
Händen vorbei und fiel in den Schlamm. Der Alte bückte sich, der Kosak schlug
ihn auf den Hintern, die Umstehenden hielten sich den Bauch und stöhnten vor
Lachen. Das war auch schon das ganze Amüsement. Noch war es harmlos. Aber
niemand hätte sich verbürgen können, daß es nicht eine ernstere Wendung nehmen
würde. Aus dem gegenüberliegenden Bauernhaus kam seine Alte auf die Straße
gelaufen, streckte schreiend die Arme nach ihm aus und lief ängstlich zurück.
Aus dem Fenster blickten weinend zwei kleine Mädchen auf den Großvater.
    Der Fuhrmann, der das Ganze
urkomisch fand, ließ die Pferde im Schritt gehen, damit die Herren Zeit hätten,
sich zu amüsieren. Aber Juri Shiwago rief den Kosaken zu sich, pfiff ihn an und
hieß ihn, die Verhöhnung zu beenden.
    »Zu Befehl, Euer Wohlgeboren«,
sagte dieser bereitwillig. »Das haben wir nicht gewußt, es war bloß so zum
Spaß.«
    Den Rest des Weges schwiegen
Gordon und Shiwago.
    »Entsetzlich«, begann Juri
Shiwago, als ihr eigenes Dorf schon in Sicht war. »Du kannst dir nicht
vorstellen, was für eine Schale des Leids die unglückliche jüdische Bevölkerung
in diesem Krieg hat leeren müssen. Der spielt sich ja ausgerechnet in dem
Gebiet ihrer Zwangsansiedlung ab. Was die Leute durchgemacht haben, all die
Leiden, die übermäßigen Abgaben, die Verwüstungen lohnt man ihnen obendrein mit
Pogromen, Verhöhnungen und der Beschuldigung, sie hätten zuwenig Patriotismus.
Wo soll der auch herkommen, wenn sie beim Feind alle Rechte genießen und bei
uns nur Verfolgungen ausgesetzt sind? Der Haß auf sie, seine Grundlage, alles
zwiespältig. Man fühlt sich gereizt über das, was einen rühren und für sie
einnehmen müßte: ihre Armut, ihr Zusammengedrängtsein, ihre Schwäche und die
Unfähigkeit, Schläge abzuwehren. Unbegreiflich. Verhängnisvoll.« Gordon gab
keine Antwort.
     
    Wieder lagen sie zu beiden
Seiten des breiten, niedrigen Fensters, es war Nacht, und sie unterhielten
sich.
    Shiwago erzählte Gordon, wie
er an der Front den Zaren gesehen hatte. Er erzählte gut.
    Es war in seinem ersten
Frühjahr an der Front gewesen. Der Stab des

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