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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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offen? Ist Ihnen nicht
kalt?« Und sie trat zu Galiullin.
    »Was haben Sie für
Beschwerden?« fragte sie und faßte seine Hand, um den Puls zu fühlen, ließ sie
aber gleich wieder los und setzte sich verblüfft auf den Stuhl neben seinem
Bett.
    »Was für eine Überraschung,
Larissa Fjodorowna«, sagte Galiullin. »Ich war mit Ihrem Mann im selben
Regiment und kannte ihn. Seine Sachen habe ich aufgehoben, um sie Ihnen zu
geben.«
    »Unmöglich, unmöglich«, sagte
sie. »Was für ein erstaunlicher Zufall. Sie haben ihn also gekannt? Erzählen
Sie schnell, wie das alles war. Er ist doch gefallen, verschüttet, nicht wahr?
Verheimlichen Sie mir nichts, keine Angst, ich weiß ja alles.«
    Galiullin hatte nicht den Mut,
ihr die Gerüchte zu bestätigen. Er beschloß zu lügen, um sie zu beruhigen.
    »Antipow ist in
Gefangenschaft«, sagte er. »Er war mit seiner Abteilung während des Angriffs zu
weit vorgedrungen, wurde abgeschnitten und eingekesselt. Er mußte sich
ergeben.«
    Aber Lara glaubte ihm nicht.
Die bestürzende Plötzlichkeit dieses Gesprächs regte sie auf. Sie konnte ihrer
aufsteigenden Tränen nicht Herr werden, mochte aber nicht in Gegenwart Fremder
weinen, darum stand sie rasch auf und verließ das Zimmer, um im Korridor ihre
Fassung wiederzufinden.
    Bald kam sie äußerlich ruhig
wieder herein. Mit Bedacht blickte sie nicht zu Galiullin hin, um nicht wieder
weinen zu müssen. Sie trat an Shiwagos Bett und sagte zerstreut und eingeübt:
»Guten Tag. Was haben Sie für Beschwerden?«
    Shiwago hatte ihre Erregung
und ihre Tränen beobachtet, er wollte sie fragen, was ihr fehle, und ihr
erzählen, daß er sie schon zweimal im Leben gesehen habe, als Gymnasiast und
als Student, aber dann dachte er, es würde zu vertraulich klingen und sie könne
ihn mißverstehen. Plötzlich fiel ihm die tote Anna Iwanowna im Sarg ein, er
erinnerte sich an Tonjas Schreie damals in Siwzew Wrashek, hielt sich zurück
und sagte statt dessen: »Ich danke Ihnen. Ich bin selbst Arzt und behandle mich
selbst. Ich brauche nichts.«
    Warum ist er mir böse? dachte
Lara und sah den stupsnasigen und unauffälligen Unbekannten verwundert an.
    Seit Tagen herrschte
unbeständiges, wechselhaftes Wetter, und der Wind flüsterte in den Nächten, die
nach nasser Erde rochen.
    In all den Tagen kamen
sonderbare Nachrichten aus dem Hauptquartier, kamen beunruhigende Gerüchte von
zu Hause, aus dem Landesinneren. Die telegrafische Verbindung mit Petersburg
war unterbrochen. An sämtlichen Straßenecken gab es politische Gespräche.
    Wenn Schwester Antipowa Dienst
hatte, machte sie jedesmal zwei Visiten, morgens und abends, und wechselte
nichtssagende Bemerkungen mit den Patienten in den anderen Zimmern, ebenso wie
mit Galiullin und Shiwago. Ein merkwürdiger, interessanter Mann, dachte sie.
Jung und wenig liebenswürdig. Er hat eine Stupsnase, und schön kann man ihn nicht
eben nennen. Aber er ist klug im besten Sinne des Wortes, hat einen bestechend
lebendigen Verstand. Doch das ist unwichtig. Wichtig ist, daß ich meine
Verpflichtungen hier bald abgebe und mich nach Moskau versetzen lasse, näher zu
Katenka. Und in Moskau muß ich beantragen, daß ich als Krankenschwester
freigestellt werde und nach Jurjatin ans Gymnasium zurückkehren kann. Mit dem
armen Pawluscha hat sich ja alles geklärt, da gibt es keine Hoffnung mehr. Also
brauche ich nicht länger die Heldin im Felde zu spielen, das habe ich mir ja
nur aufgeladen, um ihn zu suchen.
    Wie mag es Katenka gehen? Das
arme Waisenkind (sie begann wieder zu weinen). Und so jähe Veränderungen in
letzter Zeit. Eben war das alles noch heilig — Pflicht vor der Heimat,
kriegerischer Mut, hohe vaterländische Gefühle. Aber der Krieg ist verloren.
Das ist das größte Unglück, davon kommt alles andere, alles hat den Nimbus
verloren, nichts ist mehr heilig.
    Plötzlich hat sich alles
verändert, der Ton, die Luft, man weiß nicht mehr, was man denken und auf wen
man hören soll. Es ist, als wäre man das ganze Leben lang wie ein kleines Kind
an der Hand geführt und auf einmal losgelassen worden — nun lerne, selber zu
gehen. Weit und breit kein Angehöriger, keine Autorität. Die alten menschlichen
Wertvorstellungen sind zusammengebrochen, und man möchte nur noch dem
Wichtigsten vertrauen, der Kraft des Lebens oder der Schönheit oder der
Gerechtigkeit, sich ganz und ohne Bedauern davon leiten lassen, mehr als im
gewohnten friedlichen Leben, das untergegangen und ausgelöscht worden ist.

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