Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
»Sie sind großartige Athleten, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge.« Läufer sind Fließbandarbeiter. Sie beherrschen eine einzige Tätigkeit gut – bei gleichmäßigem Tempo geradeaus laufen – und wiederholen diese Bewegung, bis die Maschine wegen Überbeanspruchung versagt. Athleten sind wie Tarzan. Tarzan schwimmt und ringt und springt und schwingt sich an Lianen durch die Luft. Er ist stark und agiert explosiv. Man weiß nie, was Tarzan als nächstes tut, deshalb verletzt er sich nie.
»Dein Körper braucht Schocks, um widerstandsfähig zu werden«, erklärte mir Eric. Tut man jeden Tag dasselbe, stellt sich der Bewegungsapparat rasch darauf ein und schaltet auf Autopilot um. Überrascht man ihn jedoch mit neuen Aufgaben – über einen Bach springen, schnell unter einem Baumstamm durchkrabbeln, sprinten, bis einem die Luft wegbleibt -, werden schlagartig Dutzende von Nervenbahnen und Hilfsmuskeln aktiviert.
Bei den Tarahumara gehört so etwas zum Alltagsleben. Jedes Mal, wenn sie ihre Wohnhöhle verlassen, gehen sie ins Unbekannte hinaus, weil sie nie wissen, wie schnell sie laufen müssen, um ein Kaninchen zu erwischen, wie viel Feuerholz nach Hause zu schaffen ist oder wie schwierig ein Aufstieg während eines Wintersturms sein wird. Die erste Schwierigkeit, der sie sich schon als Kinder ausgesetzt sehen, ist das Überleben am Rande eines Abgrunds. Ihr erstes und lebenslang praktiziertes Spiel ist das Ballspiel, das mit Sicherheit auch eine Übung in Unsicherheit ist. Man kann keinen Holzball durch felsiges Gelände treiben, wenn man nicht imstande ist, einen Satz nach vorn zu machen, abzufedern, zurückzuweichen, zu sprinten, in Gräben hineinund wieder herauszuspringen.
Die Tarahumara werden stark, noch bevor sie lange Läufe machen. Eric gab mir den Rat, es genauso zu halten, wenn ich gesund bleiben wolle. Also fing ich gleich damit an, anstatt mich mit Stretching vor dem Laufen zu begnügen. Ausfallschritte, Liegestützen, Sprünge aus der Hocke, Crunches: Eric ließ mich jeden zweiten Tag eine halbe Stunde lang solche anstrengenden Kraftübungen machen, und fast alle waren mit einem Gymnastikball verbunden, um meinen Gleichgewichtssinn zu schärfen und die Hilfsmuskulatur mit einzubeziehen. Sobald ich damit fertig weg, ging es mit Bergläufen weiter. »Beim Bergauflaufen gibt es keine Schlafwandelei«, erklärte Eric. Lange Anstiege waren eine Übung in Schrecken und Ehrfurcht, sie zwangen mich zur Konzentration auf den Bewegungsablauf und zu Tempowechseln, wie das ein Radfahrer bei der Tour de France tun muss. »Bergstrecken sind verkapptes Tempotraining«, pflegte Frank Shorter zu sagen.
Es war das Jahr, in dem meine Heimatstadt in Pennsylvania zu Weihnachten eine kurze Wärmeperiode erlebte. Am Neujahrstag zog ich Shorts und ein langärmeliges Trikot an, um auf einen Acht-Kilometer-Querfeldeinlauf zu gehen. Ich wollte mir an diesem Ruhetag einfach nur ein bisschen die Beine vertreten. Eine halbe Stunde lang ging es durch den Wald, dann überquerte ich ein Winterheufeld und machte mich auf den Heimweg. Die warme Sonne und der Geruch des von der Sonne erwärmten Grases waren so wohltuend, dass ich das Tempo ständig reduzierte, weil ich den letzten Kilometer so lange wie möglich genießen wollte.
Hundert Meter vor meinem Haus hielt ich an, zog das langärmelige Hemd aus und machte kehrt, um eine Schlussrunde durch das Heugras zu drehen. An diese Runde schloss sich eine zweite an, und dabei legte ich auch noch das T-Shirt ab. Bei Runde vier lagen auch noch Socken und Laufschuhe auf dem Kleiderhaufen, meine bloßen Füße hatten es gut im trockenen Gras und auf der warmen Erde. Bei der sechsten Runde hatte ich die Hand am Hosenbund, entschied aber, dass die Shorts aus Rücksicht auf meine 82-jährige Nachbarin am Mann zu bleiben hatten. Ich hatte endlich das Gefühl wiedergefunden, das ich bei meinem Lauf mit Caballo verspürt hatte – dieses Empfinden von Einfachheit, Leichtigkeit, Eleganz und Schnelligkeit zugleich. Damit könnte ich der Sonne hinterherlaufen und bei Tagesanbruch immer noch unterwegs sein.
Wie bei Caballo, wirkte das Tarahumara-Geheimnis auch bei mir, noch bevor ich es überhaupt verstand. Ich aß jetzt leichtere Kost und war kein einziges Mal von einer Verletzung gebremst worden, deshalb konnte ich auch längere Strecken laufen. Und weil ich längere Strecken lief, schlief ich wunderbar, fühlte mich entspannt und erlebte, wie mein Ruhepuls abnahm. Meine ganze
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