Bosmans/Deleu 01 -Nackte Seelen
immer zurück in die Ardennen gehen sollte. Barbara war schwanger und dadurch sehr verletzlich.
Doch er wusste, dass er nicht in die Ardennen gehen würde. Hier, in Mechelen, brauchte man ihn. Deleu stützte sich auf dem Ellbogen ab, richtete sich halb auf und ging den Bericht durch, den er von Dujardin, dem Chef der
Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft,
erhalten hatte.
Dort hatte man gezielt nach ähnlichen Mordfällen in den letzten zehn Jahren gesucht. Deleu war überzeugt, dass die Bestie, »der Schlächter«, wie er bereits in den Medien genannt wurde, früher schon gemordet hatte. Solche perfekten Verbrechen waren niemals das Werk eines Anfängers.
Der Bericht beschrieb den Mord an zwei Teenagern in Sint Truiden in der Provinz Limburg vor acht Jahren. Die Jugendlichen – der Junge war vierzehn, das Mädchen dreizehn – gingen schon seit einer Weile miteinander, und die Mutter des Mädchens vermutete, nach einem halben Geständnis ihrer Tochter, dass sie auch schon miteinander intim geworden waren. Dass sie regelmäßig in einem unterirdischen, selbst gebauten Versteck Sex hatten, wusste die Mutter jedoch nicht.
Niemand wusste von der Existenz dieses Verstecks. Es lag mitten im Wald und bestand aus zwei tiefen Gruben, die durch einen Tunnel miteinander verbunden waren. Der Tunnel war sehr solide, weil er mit Holzbalken abgestützt war. Der Eingang war durch Sträucher geschützt, und die Grube war mit Holzpaneelen abgedeckt, auf denen wiederum eine etwa zwanzig Zentimeter dicke Schicht Erde lag. Es war das reinste Wunder, dass die Kinder überhaupt je gefunden wurden.
Deleu zündete sich eine Belga an und fragte sich, wie viele von solchen Geheimnissen die ausgedehnten Wälder Limburgs vielleicht niemals preisgeben würden. Das Wort »Limburg« erinnerte ihn an irgendetwas, aber wie sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er kam nicht dahinter, was.
Als die Kinder zufällig gefunden wurden – ein abgerichteter Jagdhund hatte, die Befehle seines Herrchens ignorierend, halsstarrig in der Erde gegraben –, waren ihre Leichen schon stark verwest. Die Ermittlungen ergaben, dass sie durch mehrere Messerstiche umgebracht worden waren.
Das Frappierendste an diesem unaufgeklärten Mord war, dass die Kinder in einer sitzenden Haltung aufgefunden wurden, die Hände wie betend im Schoß gefaltet.
Es wurde eine Autopsie durchgeführt, um die diversen Verletzungen zu untersuchen und die Art der Waffe zu bestimmen. Deleu fragte sich, ob sie Blut und Brotkrümel im Hals gehabt hatten und ob solche Spuren so lange nach ihrem Tod noch festgestellt werden könnten. Sint Truiden – verdammt noch mal, das lag gut hundert Kilometer von Mechelen entfernt!
Sint Truiden, in Limburg. Wieder schrillte irgendwo in seinem Hinterkopf eine Alarmglocke, und wieder kam er nicht darauf, warum. Das war das Frustrierende an diesem Beruf. Es war nicht wie bei einem Kreuzworträtsel, wo man das fehlende Wort einfach hinten in den Lösungen nachschlagen konnte. Die Angst und die Wut des Ermittlers: unaufgeklärte Verbrechen.
Ob es sich um denselben Täter handelte? Man hatte weder Speichel- noch Spermaspuren an den Opfern gefunden. Die Kinder waren nicht vergewaltigt worden. Kein klares Motiv.
Vorausgesetzt, es handelte sich um denselben Täter. Warum hatte er sie getötet, und, wichtiger noch, wie war er ihnen auf die Spur gekommen? Nur die Mutter des Mädchens wusste, was los war. Als ihre Tochter ihr gebeichtet hatte, dass ihre Beziehung zu ihrem Freund weiter ging als nur Händchen halten und Küsschen hier, Küsschen da, hatte sie das Versteck in den Wäldern nicht erwähnt. Die Mutter, erstaunt über so viel Offenherzigkeit ihrer dreizehnjährigen Tochter, hatte nur gesagt, das sei eine Sünde und sie solle sofort damit aufhören. Dann wurde nie wieder ein Wort über die Sache verloren. Der Vater wusste von nichts.
Konnten vierzehnjährige Jungen dreizehnjährige Mädchen schwängern? Deleu seufzte tief und dachte an Rob. Sie hatten noch nie über dieses Thema geredet. Aber bestimmt lernte man heute alles darüber in der Schule. Oder nicht? Er nahm sich vor, Rob nicht nur zu erzählen, dass er ein Brüderchen oder Schwesterchen bekam, sondern auch mal ein Gespräch unter Männern mit ihm zu führen, über die Blümchen und die Bienchen und so. Vielleicht ginge es ihm dann wie in dem beliebten Witz, und Rob würde fragen: »Na schön, was möchtest du denn wissen, Papa?«
Deleu starrte einen grauen Flecken auf der
Weitere Kostenlose Bücher