Bosmans/Deleu 04 -Todeswahn
Chrissie. Sie kommt nicht wieder. Sie hält ihr Versprechen nicht. Ich werde ihr kein Geld geben. Und ich wasche mir auch nicht die Hände. Warum sollte ich, sie kommt ja doch nicht. Und Wichtchen zuliebe brauche ich mich nicht zu waschen, denn sie ist mein Kind, sie gehört zur Familie.
Verbist sah auf die Uhr.
Zwanzig nach zehn. Was nun? Ich habe gebadet. Wichtchen schläft. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich werde umsonst gelebt haben. So sei es.
Er schaltete den Computer ein, öffnete »gedicht 15 .doc« und las:
Braun und blau. Ich und du. Blau und braun. Du und ich. Wie das Meer und der Strand. Die rauschende Brandung in ewigem Liebesfluss … Kuss … Genuss … Heißer Schweiß …
Zu simpel, zu gewöhnlich.
Herman Verbist pulte in der Nase, bis Blut an seinem Fingernagel klebte. Der Nasenschleim war eingetrocknet.
Er versuchte, mit der Zunge bis in den Schritt zu kommen, aber wieder einmal gelang ihm das nicht. Er hatte bohrende Kopfschmerzen.
Er las das Gedicht noch einmal. Dann seufzte er tief.
Er stand auf, wählte irgendeine Telefonnummer und hörte einen hohen Pfeifton.
Andere Nummer, derselbe Ton.
Er steckte sich den Finger in den Hals und wählte erneut.
Er würgte.
Er rollte sich eine Gauloise, inhalierte tief, hustete, genoss nur die ersten drei Züge und drückte die Zigarette aus.
Er öffnete eine Flasche Bier, und während er sie austrank, wählte er erneut, fest entschlossen zu stöhnen.
Diesmal ertönte das Freizeichen, und sein Adrenalinspiegel stieg.
Es klingelte sieben Mal.
Klick. »Hallo, hier …«
Zitternd legte Verbist auf.
Zwei Minuten nach elf. Was soll ich tun?
Beten? Für wen? Wofür? Wie lange?
Sex? Welcher Sex?
Pornosurfen im Internet? Nichts als alter Dreck.
»Nein, Molok! Nein!«
Laura Pausini!
Verbists düstere Miene hellte sich auf. Beschwingt ging er zum CD -Player und wählte Nummer 18 .
La Solitudine.
Memory. Repeat.
Auch sie ist einsam. Ich muss Italienisch lernen. Die Texte übersetzen. Jetzt oder nie. Ich muss wissen, wie sie sich fühlt. Sie ist so schön. Und so einsam. Ich könnte sie glücklich machen. Ich will sie glücklich machen.
Fieberhaft suchte er nach seinem Notizheft, in dem er den Text aufgeschrieben hatte, welchen er mit Hilfe seines Diktaphons auswendig gelernt und übersetzt hatte.
Elf Uhr siebenundzwanzig. Na also! Ich muss lernen, konsequent zu sein. Dreiundzwanzig Uhr und siebenundzwanzig Minuten, ich bin Vater.
Resümee:
Laura und Marco leben sich auseinander. Marco geht nach der Arbeit in die Kneipe, und Laura sitzt allein zu Hause. Marco will nicht mehr mit Laura schlafen, sondern nur noch perversen Sex mit ihr haben. Was Laura natürlich ablehnt. Marco ist ein ekliger Dreckskerl. Typisch italienisch: Die Männer können sich alles erlauben, während die Frauen zu Hause am Herd verkümmern. Laura ist einsam, genau wie ich.
Als die ersten Töne von
La Solitudine
erklangen, seinem absoluten Lieblingsstück, hämmerte Verbist mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte.
»Marco, du mieses Schwein!«
Er warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Einsamkeit, meine größte Angst.
Nein, der Tod, vor dem fürchte ich mich am meisten.
Was geschieht mit mir nach meinem Tod? Ich kann das nicht begreifen. Es ist doch unfassbar, dass ich dann für immer von der Erde verschwinden soll. Wo bin ich dann? Wie lange dauert die Ewigkeit? Ich kann es mir nicht vorstellen. Oder werde ich wiedergeboren? In welcher Gestalt kehre ich zurück? Und wie? Bestimmt wieder mit dem Zug. Oder in einem Omnibus, vollgepackt mit schwitzenden Pendlern, mit Kanonenfutter. Oder ich werde mitten in einem apokalyptischen Blutbad abgeladen. Ich darf nicht allzu gründlich darüber nachdenken. Oder sollte ich es doch lieber tun?
Fragen, Fragen, Fragen. Keine Antworten.
Werde ich als ich selbst wiederkehren oder als ein anderer, jemand, der noch geboren werden wird oder gerade neu geboren wurde? Wenn ich sterbe, werde ich dann sofort wiedergeboren, oder gibt es eine Inkubationszeit?
Ich hoffe, dass ich als Frau wiederkehre, dann könnte ich stundenlang an mir herumspielen. Drei Orgasmen hintereinander und nur einmal Schuldgefühle.
Angenommen, ich bin eine Frau und dazu verdammt, jung zu sterben. Eine tödliche Krankheit, meine zweitgrößte Angst. Die Schmerzen – ich ertrage keine Schmerzen! Ob ich
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