Bostjans Flug - Roman
Tür. Nur die Fenster lassen sie in Ruhe, die Fenster, die Jalousien und die Dachluke rühren sie nicht an, die haben sie dem Schaub überlassen. Wenn sich Boštjan am Abend niederlegt, schließt er die Tür – wacht er auf, ist
sie offen; geht er aus dem Haus, zieht er sie hinter sich zu und hält die Schnalle besonders lang fest, damit der Riegel sicher einrastet, er prüft mit einem Ruck nach, ob er sitzt – kommt er zurück, steht die Tür wieder weit offen. Die Kinder gehen ein bißchen weg, die Luft ist rein, der Vater nicht daheim, sie schauen beim Nachbarn vorbei, spielen am Bach, treiben sich im Wald herum, schließen hinter sich ab, kommen zurück, und wieder hat jemand die Tür aufgestoßen. Es ist egal, ob man sie leise schließt oder krachend zuschlägt, ob man sie im Türstock verkeilt oder nur leicht anlehnt, sie zuschmettert oder ob das Schloß den Eisenriegel lautlos aufnimmt: es ist egal, ob es die Tür gibt oder nicht.
Boštjan träumt graue und gelbe Träume. Aus gelben Brettern ist der Sarg gemacht, in dem die Großmutter begraben wurde, grau ist das Haus, das sich im Schutthügel erneuert und verändert. Vom Schaub träumt er nicht, ihn hat er sich zugezogen, der Schaub ist Bote und Beauftragter des Vaters. Bevor der Vater in die Arbeit geht, hetzt er zuerst einmal seinen Aufseher und Helfer, seinen Verbündeten, auf Boštjan. Unter der Woche ist der Vater nicht zuhause, dennoch weiß er, wenn er heimkommt, ganz genau, was Boštjan alles angestellt hat. Am frühen Morgen erscheint er im Türrahmen, wenn Boštjans Körper noch biegsam, verschlossen und abgekapselt ist. Aus Selbsterhaltungstrieb zieht es ihn zusammen, die Körperteile schrumpfen, legen sich ineinander, sehnen sich zurück in den Mutterleib. Im Schlaf ist der Mensch ein hilfloses Flickwerk, in diesem Haus ist er ein allen Angriffen ausgesetztes Bündel von Gliedern, niemand ist da, der ihn schützt, niemand, der sich für ihn einsetzt. Während er schläft, verkrümmt und entstellt der Niedergetretene die Glieder, versetzt sie in den vorgeburtlichen Zustand
zurück und bringt sie in eine Position, die ihn unkenntlich macht. Wenn er aufwacht, muß er zuerst seine Glieder aus der verzerrten Schutzstellung herauslösen, Atem und Geschmack sind widerlich bitter, er gähnt und streckt sich, entfaltet und ordnet die verletzlichen Extremitäten und zieht sie mühsam aus ihrer nächtlichen Lethargie und Verschränkung. In diesem Stadium, in dieser gefährlichsten Stunde am Morgen nimmt der Vater den Segenzweig vom Tram herunter, wo er in jedem Haus, das auf Tradition Wert legt, griffbereit aufbewahrt wird; zwischen Nacht und Morgengrauen greift der Vater nach dem Haussegen, krempelt die Ärmel hoch und stellt sich breitbeinig über das Bett, um gleichzurichten, was sich bei Boštjan verkrümmt hat, um die Schlechtigkeit auszutreiben, solange das Fleisch noch willig ist und der Kopf leer; mit gespreizten Beinen steht er vor ihm, um die alten Verbiegungen und Kanten zu glätten und Platz für neue zu schaffen, um das angesammelte Gemenge kindlicher Missetaten herauszudreschen, noch ehe sich die gestrigen Eindrücke in seinem Bewußtsein auszuprägen beginnen, noch bevor der neue Tag den Sinnen neue Eindrücke verschafft.
Mit voller Absicht setzte er seinen Verbündeten, den Schaub, auf Boštjan an, um ihm die Weichlichkeit, das Duckmäusertum und die kindlichen Flausen auszutreiben, um das Älterwerden zu beschleunigen, die Jahre zu überspringen und aus dem Knaben einen Erwachsenen zu machen. Er richtete dem Schaub die buschigen Augenbrauen auf und versetzte ihn in Spannung, damit sich sein Stroh jedesmal sträubte, wenn sich die Wolken über dem Nußbaum ballten. Boštjan rätselt, ob der Schaub von selbst den Nußbaum einnahm oder ob es der Vater war, der ihm den Baum herrichtete und zuwies. Stets ist er in der Nähe, Stroh
geruch liegt über dem Hofplatz, die Abende und die Morgendämmerung verbringt er sitzend im Baum. Sein Wirkungskreis ist die Nacht: der fremde, ahnungslose Passant, dessen Blick seinem gelegentlichen Funkeln folgt, glaubt, es sei ein Stern, der so niedrig über der Erde steht. Boštjan, der bereits in den ersten Tagen nach dem Einzug in das neue Haus blinzelnd den Schaub zwischen den Ästen im Nußbaum wahrnahm und so tat, als habe er ihn nicht gesehen, macht einen Bogen um den Baum und geht sogar seinem Schatten aus dem Weg. Er vermeidet es, den Stern zu fixieren, im Wissen, daß er dadurch seine Aufmerksamkeit
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