Bostjans Flug - Roman
den Boden, worauf das Tier vom Steig glitt. Heute fliegt Großmutters Seele durch die Weiten und kommt hier oft vorbei, streift über die Wipfel, daß es in den Zweigen zu tönen beginnt; auch sie wirft, in Erinnerung an jenen Schlangentag, einen Blick auf den Steig, ob sich nicht wieder ein Reptil darauf sonnt. Notfalls stampft Boštjan heute schon selber auf, um es zu verscheuchen, und Großmutters Seele webt sich wieder in
den Nebelschleier und schwebt davon. Hat die Großmutter sie gar am Schlangenfeiertag verjagt, daß Boštjan vor Sehnsucht fast vergeht? Gegen diesen Schmerz hilft keine Salbe und auch keine Salbung, hilft keine Ysopspülung, kein Kraut der Črtelovka und kein Besprechen, helfen wird das kleine Hochplateau, soweit es kann. Nur vorübergehend und nur kurz war er der nächtliche Herr der breiten Marktstraße, jetzt ist er ihr abgesetzter Habenichts, lediglich das kleine Plateau ist sein, eigens für ihn geschaffen, seiner ist er sicher. Hier war er stundenlang gesessen und hatte die Bilder betrachtet, die sich zwischen den Bäumen am Himmel formten, hatte sich in die Felsgebilde am Horizont verschaut, in das Löwenhaupt, das aus den Steinen ragt, die Mähne verschmilzt mit dem Bergkamm, wächst in den Felsenkörper hinein und hält das Untier fest, damit es nicht aus seinem steinernen Zwinger ausbricht. Er hatte dem Wind gelauscht, der sich in den Baumkronen verfing, und dem Sprudeln des Baches in der Schlucht, hatte sich selbst zugesehen, wie er da auf dem kleinen Plateau sitzt und sich umsieht, wie er erstarrt, wenn die Felsen scharlachrot zu strahlen beginnen. Viel hält ihn hier fest, an diesem Ort der Naivität und Unschuld, der Wunder und des Trostes, der frühen Spiele und des Vergnügens, der Gespenster und der Kinderstreiche, diesem Ort der Begeisterung und der Geistesblitze. Es gibt keinen schöneren Ort als so einen Spielplatz, und es gibt auch kein schöneres Spiel als so einen Steig. Auf diesem Platz, der von aller Lüge frei ist, auf das Gestern ausgerichtet und für das Morgen bereit, macht der Eigentümer des Waldsteigs, und zu einem guten Teil auch des Herbstes, die Niederlage quitt, wird wiedergeboren, pflanzt sich neuerlich ein und faßt Mut, nimmt Zuflucht in selbstvergessener Schau, hier richtet er sich wieder
auf. Von diesem Ort aus steckt er aufs neue die erste und die letzte Szene ab, hebt diese zwei aus allen dazwischenliegenden heraus, zieht sozusagen um die beiden einen Zauberkreis, setzt die Grenzen fest, rückt alle anderen Szenen in den Hintergrund, reduziert sie alle auf die erste und die letzte: Von dem kleinen Plateau aus sieht er wieder Lina beim Wassertrog stehen, bei jenem denkwürdigen beschwerlichen Regenbitten, wieder und wieder sieht er sie, wie sie die Spange schließt, sieht vor seinen Augen das bunte Bündel am Boden sich die Schuhe auf die bloßen Füße stecken; und von dem kleinen Plateau aus öffnet sich vor ihm die andere Schlüsselszene, rollt sich sehr klar der Tag auf, an dem die Mutter abgeführt wurde: auch sie sieht er am Trog Wasser holen, auch sie netzte sich die Füße dort, es könnte sein, daß jenes Pilgermädchen, das er heute sieht, sie war; seine Frauen fließen in eins, verbinden sich miteinander und schaffen Klarheit, indem eine die andere durchdringt; durchaus möglich, daß Lina abgeführt wurde und daß sie im Labyrinth des Gendarmeriepostens verschwunden ist, während die Mutter noch zum Wasser geht. Wie in einem Traumgesicht wiederholt sich vor ihm jenes morgendliche Ereignis:
Zeitig in der Früh fuhr der Allmächtige mit dem Finger über den Ort, den die Seraphim, alle mit dreipaarigen Stutzflügeln ausgestattet, wie eine Landkarte vor ihm entfalteten, darauf der Graben, alle Häuser von Tesen, jedes Haus ein Tüpfelchen. Während die Seraphim mit einem Flügelpaar ihr Gesicht bedeckten, um von dem Glanz nicht zu erblinden, spähte der Allmächtige nach den Pünktchen auf der Karte, nach den Dächern und Rauchfängen, und hielt mit dem Finger bei einem Punkthäuschen an, kleiner als ein Fliegenschiß: dieses will ich, an diesem
Morgen, und kein anderes! Die Wahl, die er traf, entsprach seiner augenblicklichen Stimmung, er suchte ein Dach aus mit einem Kamin, aus dem der Rauch des Brotbackens quoll, genaugenommen erst der Duft der harzigen Föhrenscheiter, während durch das angelehnte Fenster ein säuerlicher Geruch nach dem im Backtrog aufgehenden Teig kam, und die Seraphim um den Gottesthron verdeckten sich noch mit dem
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