Bote ins Jenseits
kannte ich sie wirklich nur von Fotos und aus Erzählungen. Aber wir mochten beide den gleichen Menschen, und das verbindet einen auch irgendwie, finden Sie nicht?«
Kamp hörte die Worte seines Freundes wie aus weiter Ferne. Er fühlte sich völlig erschöpft, sowohl physisch wie auch psychisch. Möglicherweise wäre es doch am besten gewesen, wenn Gregor ihn nicht mitgenommen hätte. Sein Tod war einfach noch viel zu frisch. Arrogante Boten aus der Anmeldung hin oder her, irgendwo hatte dieser Robard mit seinem Rat an Kamp recht. Es wäre besser gewesen, sich etwas mehr Zeit zu nehmen, um alles ein wenig sacken zu lassen und sich an die neue Existenz zu gewöhnen. Jetzt bekam Kamp die Rechnung für seine Ungeduld präsentiert.
Über seinen Selbstvorwürfen schlief Kamp ein.
Auf leisen Sohlen ging Gregor zu Kamp und hob ihn vorsichtig hoch. Kamp quiekte ein wenig, schlief aber unbeirrt weiter.
»Wie niedlich. Der Kleine ist ja total weggetreten! Hören Sie, jetzt würde ich Sie gerne um einen Gefallen bitten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich mit Ihren neuesten Erkenntnissen auf dem Laufenden zu halten? Wenn Sie und Heike tatsächlich richtig liegen, dann würde es mich schon interessieren, wer dieser Mistkerl ist.«
»Oh, das lässt sich einrichten. Wir werden uns bestimmt wiedersehen. Einen schönen Tag noch, Herr Tibbe, und gute Besserung.«
Der größte Nachteil an Heike Kamps Beruf war der Umstand, immer nur dann freimachen zu können, wenn ihre Arbeitgeber Urlaub hatten. Was die eigene Urlaubsplanung betraf, war sie auf Gedeih und Verderb den Planungen der Familie Reitmeier ausgeliefert. Nur wenn einer von ihnen oder beide nicht arbeiteten, war es ihr möglich, sich etwas anderes vorzunehmen. Ein Umstand, über den man sie von Beginn an in Kenntnis gesetzt hatte und der eine entscheidende Bedingung für das Zustandekommen des Arbeitsvertrages gewesen war.
Manchmal hatte sie, ganz spontan und unerwartet, sogar dann frei, wenn sie es eigentlich weder wollte noch brauchte. Die großen Ferien wurden ihr immer rechtzeitig mitgeteilt, aber kleinere Zeiträume konnten sich schon mal von einem Tag auf den anderen ergeben.
Natürlich musste sie einräumen, dass dieser Nachteil auch einen nicht unbeträchtlichen Vorteil enthielt. Sie hatte mehr Urlaub als so manch anderer Arbeitnehmer. Es war keine Seltenheit, dass Herr und Frau Reitmeier nicht gleichzeitig frei hatten, und wann immer auch nur einer von ihnen zu Hause war, wurden ihre Dienste nicht in Anspruch genommen.
Als Frau Reitmeier am Abend des vergangenen Tages als Erste nach Hause gekommen war, hatte sie Heike darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie sich mit ihrem Mann auf ein verlängertes Wochenende in den Alpen verständigt hatte. Sie konnte sich also den Rest der Woche den angenehmeren Dingen des Lebens widmen.
Heike hatte sich an diesen Umstand bereits so gut es ging gewöhnt und nahm es gleichmütig hin. Es gab da ohnehin etwas, das sie unbedingt noch erledigen musste. Vor zwei Tagen hatte sie einem Menschen, den sie zwar nicht kannte – und eigentlich auch nicht mochte –, dessen durchaus gute Absichten sie aber respektierte, eine gewisse Frage nicht beantwortet. Eine Frage, die sie, nachdem sie intensiv über diese Begegnung nachgedacht hatte, auf keinen Fall unbeantwortet lassen wollte.
Sie durfte es nicht!
Auf keinen Fall wollte sie ihren Bruder posthum in ein falsches Licht tauchen – schon gar nicht bei seinem besten Freund. Was aber noch viel wichtiger war, sie selbst wollte noch viel weniger in einem falschen Licht stehen.
Das konnte fatale Folgen haben!
Wenn sie versuchte, sich in die Lage von Thores Freund zu versetzen, hätte sie todsicher und mit Anlauf genau die falschen Schlüsse gezogen. Für die eigene Schwester musste es ein Leichtes sein, mit dem Brustton der Überzeugung, jeden Umgang ihres Bruders mit Drogen in das Reich der Märchen zu verweisen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie dazu vor ein paar Tagen nicht in der Lage war, aber sie würde das korrigieren – noch heute!
Nachdem sie den Tag ganz entspannt hatte anklingen lassen – lange ausschlafen und eine Art Brunch, weil es fürs Frühstück zu spät und fürs Mittagessen zu früh war –, machte sie sich auf den Weg zu der ehemaligen Wirkungsstätte ihres Bruders, um mit dessen ehemals besten Freund ein paar Dinge zu klären.
Kamp muss kuerzer treten
Während des ganzen Weges zurück in ihre Unterkunft schlief Kamp wie
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