Bottini, Oliver - Louise Boni 01
was gesehen?»
Lederle räusperte sich. «Die Osteuropäer.»
«Mit dem Roshi?»
Lederle schwieg einen Moment. Dann sagte er: «Sie meinte, sie kann es nicht beschwören. Es war ziemlich dunkel. Sie standen in der Nähe des Büros im Erdgeschoss.»
«Und wenn sie dazugehört, Reiner, nicht der Roshi?»
«Annegret Schelling? Asile d’enfants?» Lederle klang sehr geduldig. «Möglich ist alles. Wahrscheinlich ist es nicht.»
Sie biss sich auf die Lippen. Hatte sie sich tiefer im Gestrüpp verirrt, als ihr bewusst war? Möglich, aber nicht wahrscheinlich? Weshalb hielt nur sie es für möglich und wahrscheinlich?
Aber hielt sie es für wahrscheinlich?
«Wie macht ihr weiter?»
«Morgen bekommt Chervel seine Durchsuchungs-genehmigung für das Kloster. Rolf und ich dürfen zuschauen.» Lederle schwieg. Sie hörte seine kurzen Atemstöße. Mit plötzlichem Ärger sagte er: «Und du, Louise? Wie geht’s bei dir weiter? Wie lange willst du dich verkriechen? Die Psychologin war heute bei mir.
Ruf sie an, triff dich endlich mit ihr. Glaubst du, Almenbroich und Bermann vergessen das Ganze, nur weil sie dich ein paar Tage nicht zu Gesicht bekommen?»
«Ja», sagte sie und legte auf.
Sie fragte sich, ob Lederle wusste, dass sie mit Richard Landen im Kanzan-an gewesen war. Hatte Georges geplaudert? Annegret Schelling?
Dann dachte sie an Katrin Rein. Die Bermann-Frau, die sich Sorgen um sie machte. Die in ihrem Treppenhaus gestanden hatte, jetzt zu Lederle gegangen war, auf einen Anruf wartete, der vielleicht nie kommen würde. Es dauerte einen Moment, bis es ihr gelang, den Gedanken an sie zu verdrängen.
Sie überlegte, was Annegret Schellings Aussage, sie habe den Roshi mit den Osteuropäern gesehen, an ihrer Haltung ihm gegenüber änderte. Die Antwort war klar: nichts.
Oder alles?
Verärgert schlug sie mit beiden Händen auf das Lenkrad.
Auch eine andere Frage weckte neue Zweifel in ihr.
Asile d’enfants vermittelte asiatische Kinder an europäische Adoptiveltern. Barbara Franke hatte zwar gesagt, dass sich mit Kindern Geld verdienen lasse –
aber war Adoptionshandel derart lukrativ, dass die Gewinne einen Polizistenmord, einen versuchten Polizistenmord und Menschenraub rechtfertigten? Wie viel verdiente man, wenn man asiatische Kinder an den anerkannten Stellen vorbei an europäische Adoptiveltern verkaufte?
Wie viel war ein Kind wert? Sie schauderte.
Das war das Schlimmste an ihrem Beruf: Man war gezwungen, in denselben Kategorien zu denken wie die, gegen die man vorging. So sehr man sich von Kriminellen unterscheiden mochte: Es gab immer wieder eine gemeinsame Schnittmenge, auch wenn sie sich ihr von unterschiedlichen Seiten aus näherten. Es gab gemeinsame Wege, gemeinsame Kategorien, gemeinsame Gedankengänge. Was würde man selbst aussagen, wenn man der Schuldige wäre? Wie würde man die reiche Ehefrau, den reichen Ehemann töten, ohne den Verdacht auf sich zu lenken? Wo würde man sich verstecken? Wie viel Geld würde man für ein Kind verlangen?
Wohin würde man fahren, wenn man Calambert wäre?
Sie erwogen dieselben Lösungen für mögliche Probleme. Kriminelle Handlungsweisen wurden doppelt als Optionen in Betracht gezogen: vom Täter, von seinem Verfolger.
Wie viel war ein Kind wert? War ein Säugling mehr wert als ein Dreijähriger? Ein Junge mehr als ein Mädchen? Ein hellhäutiges Kind mehr als ein dunkel-häutiges?
Sie wollte es nicht wissen.
Aber die Frage blieb: Brachte die illegale Vermittlung von asiatischen Waisenkindern an europäische Adoptiveltern so viel ein, dass man dafür tötete oder töten ließ?
Oder ging es um mehr?
III.
ASILE D’ENFANTS
12
SIE NAHM NICHT die Straße nach Zillisheim, sondern fuhr Richtung Steinbrunn-le-Bas nach Süden, um niemandem zu begegnen, den sie kannte. Währenddessen aß sie zu Mittag: Salamisandwich, Salzstangen, extralanges Twix. Anschließend trank sie Evian, das frisch war und trotzdem unbarmherzig öde schmeck-te.
In Steinbrunn-le-Bas winkten Schulkinder, die aus einem Bus stiegen. In Steinbrunn-le-Haut zweigte eine winzige Straße nach Norden Richtung Flaxlanden ab, das wenige Kilometer vor Mulhouse lag. Aufs Gera-tewohl folgte sie ihr, um herauszufinden, ob man nicht nur von Illfurth im Westen, sondern auch von Osten zum Kanzanan gelangte. Irgendwohin musste die Straße, von der der Schotterweg zum Kloster abging, ja führen. Doch die wenigen holprigen Stichwe-ge nach Westen endeten vor Ackern und stillen Ge-höften.
Also
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