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Bottini, Oliver - Louise Boni 01

Titel: Bottini, Oliver - Louise Boni 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mord im Zeichen des Zen
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wie?»
    «Man lässt das Ich, das Selbst hinter sich.»
    «Das heißt, man lebt ohne Ich?»
    «Ja. Das Ich ist der spirituelle Feind.»
    «Aber wenn Sie kein Ich haben, was sitzt dann vor mir?»
    Wieder lachte Chiyono. Das Gespräch schien nach ihrem Geschmack zu verlaufen. «Der Buddha sagte:
    ‹In diesem sechs Klafter hohen, mit Wahrnehmung und Bewusstsein versehenen Körper, da ist die Welt enthalten, der Welt Entstehung, der Welt Ende und der zu der Welt Ende führende Pfad.› Von einem Ich hat er nicht gesprochen. Bei mir sind es vermutlich nur fünf Klafter, aber das ändert nichts am Inhalt.»
    «Sie haben also kein Ich.»
    «Nein, ich habe kein Ich. Das, was Sie als Ich bezeichnen, bezeichnen wir als die fünf Skandhas. Das sind die Bestandteile des Körpers, die Gefühle, die Wahrnehmungen, die Geisteskräfte wie Wille, Aufmerksamkeit, Tatendrang und so weiter, und das Bewusstsein. All das verändert sich dauernd. Es ist nicht fest oder beständig. Wie kann man ihm da eine konkrete Bezeichnung geben? Wie kann man es Ich nen-nen?»
    «Kein Ich», murmelte Louise.
    «Im buddhistischen Sinn, nicht im psychologi-schen.»
    «Sehr beruhigend. Chiyono-ohne-Ich, was wissen Sie über Asile d’enfants?»
    Asile d’enfants kam seit 1997 ins Kanzan-an, seit 1999 zweimal pro Jahr: einmal im Winter, einmal im Sommer. Die Größe der Gruppen variierte – zwei bis vier Betreuer, drei bis acht Kinder. Auch die Auf-enthaltsdauer war immer unterschiedlich: Mindestens eine Woche, höchstens zwei. Sitz der Organisation war Basel, Ansprechpartnerin für Chiyono Annegret Schelling. Die anderen Asile-Betreuer kannte sie, wenn überhaupt, nur vom Sehen.
    Chiyono legte die Namenslisten von Betreuern und Kindern auf einen uralten Kleinkopierer, der stotternd schlechte Duplikate erstellte. Louise überflog sie. Die Namen von zwei Betreuern tauchten in jeder Liste auf: Annegret Schelling und Harald Mahler. Dazu kamen abwechselnd Klaus Fröbick, Paul Lebonne und Natchaya Mahler. Jean Bergers Name erschien nirgendwo.
    Auch die Vornamen der Kinder waren verzeichnet, samt Alter und Herkunftsland. Die meisten waren zwischen einem und drei beziehungsweise zwischen sechs und neun Jahre alt. Viele stammten aus Kambodscha, Thailand und Südkorea, einige aus Vietnam und Laos. Auf der letzten Liste fand Louise auch Pham: Pham, 3 1/2, Vietnam.
    Die Osteuropäer hatte Chiyono nie gesehen. Weder in Gegenwart der Asile-Leute noch in der des Roshi.
    Probleme mit Asile hatte es, soweit sie wusste, nie gegeben. Die Gruppe bezahlte im Voraus und groß-
    zügig, versorgte sich selbst und aß in einem Gemeinschaftsraum im ersten Stock. Tagsüber machte sie Ausflüge zu Bauernhöfen, Seen, Tierparks. Nachts verschluckten die dicken Mauern etwaige Geräusche.
    Louise schauderte unwillkürlich. Chiyono, die eben erklären wollte, was damit gemeint war, brach ab.
    Erst jetzt schien sie zu begreifen, weshalb Louise sich für Asile interessierte. Schweigend sahen sie einander an.
    «Es ist eine Möglichkeit», sagte Louise. «Nicht mehr, nicht weniger.»
    «Eine Möglichkeit?», wiederholte Chiyono.
    «Eine schreckliche Möglichkeit.»
    Chiyono begleitete sie. Auf der Lichtung blieb sie stehen und drehte sich um. Ihr Blick lag auf dem Ge-bäude. «Hoffentlich täuschen Sie sich», sagte sie.
    «Ja», sagte Louise.
    Schweigend durchquerten sie den Wald. Als sie neben dem Mégane standen, sagte Louise: «Irgendwann müssen Sie mir mal erzählen, warum Sie hier leben. Ich meine, warum Sie so leben.»
    «Ja. Wenn Sie einmal Zeit dafür haben», erwiderte Chiyono. Sie legte die Hände vor der Brust zusammen und verneigte sich.

    Louise hob die Hand, in der sie den Schlüsselbund hielt. Die Schlüssel klirrten hektisch. Sie lächelte verlegen und stieg ein.
    Im Außenspiegel sah sie, dass Chiyono ihr nach-blickte. Es hatte den Anschein, als wollte sie die Rückkehr ins Kanzan-an so lange wie möglich auf-schieben.
    Lederle saß in Justin Mullers Büro, trank Café au lait und wartete auf Anne Wallmer. Bermann war nach Freiburg zurückgekehrt. «Wir unterhalten uns, Justin und ich», sagte Lederle. Seine Stimme klang auf eine müde Weise zufrieden. Der Ärger auf sie schien verflogen zu sein. Vielleicht hatte er auch nur resigniert, was sie betraf. «Zwei ältere Herren», sagte er,
    «die zu viel gesehen haben und sich eine kleine Pause gönnen, um über angenehme Dinge zu reden.»
    Louise umfuhr ein Schlagloch. Steine knallten gegen den Unterboden des Mégane.

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