Bottini, Oliver - Louise Boni 01
einzuprägen. Sie hatte vergessen, sich rechtzeitig zu orientieren, Wege auszukundschaften, Pläne vorzubereiten.
Zu den Jägermeistergedanken kamen immer mehr Jägermeisterversäumnisse.
Aber noch waren im Wald keine Lichter zu sehen, blieb etwas Zeit. Rechts von der Schotterstraße begann ein lang gezogener Hügel. Von oben hätte sie einen guten Überblick. Doch der Mégane stand in dem Wald links von der Straße. Also musste sie sich links halten. Was war links, zwischen Straße und Waldrand? Ein Graben? Ein Bach? Eine schmale Wiese? Eine Wiese mit Zaun, ohne Zaun? Sie hatte keine Ahnung.
Auf dem weichen Grasboden am linken Straßenrand lief sie Richtung Landstraße. Es war stockfinster, sie sah kaum einen Meter weit. Sie hatte daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie sie vielleicht nicht würde benützen können.
Am Horizont war es ein wenig heller. Dort etwa lag die Landstraße.
Nach einer halben Minute bekam sie Seitenstechen und musste stehen bleiben. Sie wandte sich um. Keine Lichter zu sehen. Sie presste die Hand auf die rechte Seite und stolperte weiter.
Die Schmerzen wurden schnell stärker. Sie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Aber sie atmete hastig und in ungleichmäßigen Stößen. Der Horizont rückte nicht näher. Sie blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie, drehte keuchend den Kopf.
Noch immer nichts.
Sie fiel auf die Knie und starrte in die Finsternis. Keine Lichtpunkte. Der Sharan musste noch in Sichtweite sein, auch wenn er in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Hatten sie die Taschenlampen ausgeschaltet?
Gingen sie so langsam? Gingen sie nicht zum Parkplatz? Hatten die Lichtpunkte womöglich gar nicht von den Asile-Leuten, sondern von Klosterbewohnern gestammt?
Nein. No batteries China of Kanzan, no batteries here.
In gemäßigterem Tempo setzte sie ihren Weg fort.
Erst als die Landstraße nur noch etwa fünfzig Meter entfernt war, tanzten in der Ferne hinter ihr Lichter.
Erleichtert wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Das letzte Stück bis zur Kreuzung rannte sie.
Am Holzschild drehte sie sich ein letztes Mal um.
Inmitten der Dunkelheit flammten die Scheinwerfer des Sharan auf.
13
DER SHARAN NAHM denselben Weg, den er gekommen war. Nachdem er den Forstweg Richtung Suedwiller passiert hatte, fuhr sie los. Erst als sie sich auf der Landstraße befand, schaltete sie die Scheinwerfer ein. Der Sharan war nicht mehr zu sehen. Sie beschleunigte. Zwei Kurven später tauchten vor ihr Heckleuchten und silberfarbene Silhouetten auf. Ein-, zweimal fiel das Licht ihrer Scheinwerfer auf die Fahrerseite. Im Sharan saßen mehrere Personen. Wie viele, ließ sich nicht sagen.
Sie bogen Richtung Obermorschwiller ab, fuhren kurz darauf durch den Ort nach Westen, auf die französisch-deutsche Grenze zu. Der Van hielt sich exakt an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten. Sie blieben auf schmalen, wenig befahrenen Landstraßen, durchquerten winzige Dörfer.
Am Ortsende von Magstatt-le-Haut bremste Louise spontan und rollte in ein dunkles Gehöft hinein. Sekundenlang wartete sie vor einer rasenden, angekette-ten Bulldogge. Anschließend fuhr sie einen Kilometer ohne Licht weiter. Vor einer Kurve verlangsamte sie erneut.
Dann machte sie das Abblendlicht an und gab wieder Gas.
Hinter Uffheim schaltete sie das Handy ein und legte es in die Halterung der Freisprechanlage. Auf ihrer Mailbox befanden sich zwei Nachrichten. Anatol wollte freundlich wissen, was «scheiße» sei. Anschlie-
ßend drang Motorenlärm aus dem Lautsprecher, dann ein Kreischen wie von einer bremsenden Stra-
ßenbahn. Eine kühle, kaum verständliche Stimme sagte: «Louise? Hier Barbara Franke. Rufen Sie mich in der Kanzlei an.»
Doch sie wählte erst Lederles Nummer. Bevor sie sich melden konnte, sagte er: «Läuft noch, ich geb dir schon Bescheid.» Auch er war kaum zu verstehen – er schien zu essen.
«Warte, Reiner.» Sie erzählte von dem Sharan mit dem Kölner Nummernschild und dem ContiWinterContact TS 790. Dass sie am Kanzan-an gewartet hatte, den Asile-Betreuern folgte, dass sie Mulhouse weiträumig umfuhren und eventuell bei Ottmarsheim oder Chalampé die Grenze überquerten.
Sie hörte Lederle kauen, schlucken, trinken. Dann hörte sie ihn schweigen. «Sag was, Reiner.»
«Nein.»
Plötzlich stieg Wut in ihr hoch. «Scheiße!», schrie sie. «Ich begreif nicht, warum du nicht wenigstens in Erwägung ziehen willst, dass es um Asile
Weitere Kostenlose Bücher