Bottini, Oliver - Louise Boni 01
weiß, aber es schneite nicht. Die Sonne ref-lektierte grell auf schneebedeckten Dächern und vereisten Grasgevierten. Unvermittelt fragte sie sich, ob Chervel und Justin die Verhafteten schon vernahmen.
Ob Steiner redete. Ob die Soko Liebau weitere Spuren gefunden hatte.
«Ich möchte nicht in ein Hotel gehen», sagte ihr Vater vom Bett aus. «Ich möchte in deiner Wohnung bleiben. Es gibt mir das Gefühl, dass ich dich besser kennen lernen kann. Dass wir einen vertrauten Um-gang miteinander haben.»
«Papa …‼
«Bitte erlaube mir, in deiner Wohnung zu bleiben, Louise.» Seine Stimme klang feierlich.
Sie wandte sich um. Sie wollte nicht über diese Dinge nachdenken. Jetzt zählten nur Pham und die anderen Kinder. Und vielleicht Richard Landen. Für mehr hatte sie keine Kraft.
Sie nickte.
Nachdem ihr Vater gegangen war, schlief sie ein.
Mit dem Mittagessen kam ein Arzt, den sie noch nie gesehen hatte, und sagte: «Heute Nachmittag sehen wir uns die Wunde an, und wenn alles in Ordnung ist, können Sie morgen heim. Guten Appetit.»
Sie setzte sich auf, nahm Messer und Gabel zur Hand. «Ich will noch nicht heim.»
Er lachte. «So gut ist unser Essen auch nicht.» Er hob eine Hand zum Gruß und ging.
Am Nachmittag kam der junge, dicke Oberarzt mit einem Assistenzarzt und einer Schwester und wickelte sie begeistert aus dem Verband. Am Abend kam der Mittagsarzt und sagte, die Entzündung sei abge-klungen, die Wunde verheile gut, sie solle sich schonen, zwei Wochen Ruhe zu Hause, Krankengymnas-tik, ich hoffe, wir sehen uns nie wieder, Gelächter, alles Gute, zwei manikürte Hände ergriffen ihre Rechte und schickten sie in den Schnee zurück.
Am nächsten Morgen um neun kam Lederle und fuhr sie nach Hause. Als sie ihren Vater am Gehsteig warten sah, sank ihre Laune auf den Nullpunkt. Beinahe hätte sie ihn noch im Aufzug gefragt, ob er sich an Filbinger erinnere.
In der Wohnung hatte sich einiges verändert. Die Grünpflanzen leuchteten, die Bücher standen in Reih und Glied, die Möbel in rechten Winkeln zueinander oder zu den Wänden. Auf dem Boden lagen keine benutzten Kleidungsstücke und keine Haare. Die Wohnung eines ruhigen, sorgfältigen Menschen, der sein Leben im Griff hatte. Ihr Vater sagte: «Willkommen zu Hause, mein Kind.»
Sie schürzte die Lippen.
Zuerst warf sie einen Blick ins Schlafzimmer. Das Bett war frisch bezogen. Vor dem gekippten Fenster stand ein Wäscheständer mit weißer Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt war. Ein Bettlaken und Unterwäsche. Ihre Unterwäsche.
Auch das Bad war geputzt worden. Keine benutzten Handtücher auf dem Wannenrand, keine Haare in der Bürste und im Abfluss. Keine Reservebinden auf der Waschbeckenablage.
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Ihr Vater stand neben dem Sofa. In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Sie erinnerte sich vage. So sah er aus, wenn er sich freute. «Setz dich doch», sagte er.
Sie zog die Vorhänge vor, dann setzte sie sich. Hatte er den Spirituosenvorrat entdeckt? Würde er versuchen zu verhindern, dass sie trank? Musste sie in ihrer eigenen Wohnung heimlich trinken?
«Möchtest du vielleicht einen Kaffee? Ich habe Milch gekauft.»
Sie nickte.
Ihr Vater ging in die Kochnische und füllte die Kaffeemaschine mit Wasser. Statt des Hängeschranks, in dem sie den Kaffee aufbewahrte, öffnete er den Kühlschrank. Richtig: Kaffee gehörte in den Kühlschrank.
Auch das war in den Siebzigern, neben Filbinger, umstritten gewesen.
«Ich war neulich in Günterstal.»
«Dienstlich?»
Sie lächelte widerwillig. «Sozusagen.»
«Man mag kaum glauben, dass in Günterstal Verbrechen geschehen.» Ihr Vater füllte Milch in einen Topf, stellte den Topf auf den Herd, schaltete den Herd an. Seine Vertrautheit mit ihrer Küche schnürte ihr den Atem ab. Sie machte die Küche zu seiner Kü-
che, die Wohnung zu seiner Wohnung.
Sie sagte: «Filbinger lebt in Günterstal.»
«Filbinger?»
«Hans Filbinger.»
Er nickte ratlos. Erinnerte er sich wirklich nicht?
Oder wollte er sich nicht erinnern? Wollte er nicht, dass sie ihn erinnerte?
Sie wandte sich ab. Auf dem Couchtisch lag Mankells Die fünfte Frau . In der Mitte steckte ein Zeitungs-fetzen, ihr Lesezeichen. Am Anfang steckte ein Notizzettel, vermutlich das Lesezeichen ihres Vaters. Sie atmete einmal tief ein und aus. Sie brauchte etwas zu trinken.
Im Schrank unter der Spüle standen der Wodka, der Bourbon und der Tuica. In der winzigen Speise-kammer stand Rotwein. Im
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