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Bottini, Oliver - Louise Bonì 02

Titel: Bottini, Oliver - Louise Bonì 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Im Sommer der Mörder
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Enklaven in Kroatien und Bosnien, die kroatischen Enklaven in Bosnien..
    Sie nickte. Enklaven, sie erinnerte sich vage. Schutzzonen und Enklaven, Schlagwörter eines europäischen Krieges.
    Thomas Ilic sagte, sein Vater sei der Ansicht, der Krieg habe 1990 begonnen. Als die kroatischen Serben die Republika Srpska Krajina gegründet hätten. Andere sagten, dass es schon 1980 angefangen habe, mit dem Tod von Tito. Oder 1974 mit dem Kroatischen Frühling. 1941 mit Ustascha. 1918 mit der Gründung des Königreichs Jugoslawien.
    1389 mit der Schlacht auf dem Amselfeld. Als die christlichen Serben den muslimischen Osmanen unterlagen. Das serbische Trauma.
    »1389? Also, ich bitte dich.«
    »Oder 1054 mit dem Schisma zwischen Katholiken und Orthodoxen.« Thomas Ilic zuckte die Achseln. »Es ist kompliziert. Es gibt viele verschiedene Geschichten.«
    Sie nickte, obwohl sie die Geschichten nicht kannte.
    »Luis, mach die Heizung aus, ja?«
    Sie lächelte und drehte den Regler auf Null.
    »Es ist kompliziert«, wiederholte Thomas Ilic. »Wenn man nicht weiß, wer gewinnen soll oder wann was angefangen hat, dann ist es kompliziert.«
    »Wenn man nicht weiß, wann was aufgehört hat, auch«, sagte Louise.

    Dann hatten sie Offenburg erreicht. Thomas Ilic zog die Fotokopie einer Stadtplanseite aus dem Schnellhefter und lotste sie ins Zentrum. Als sie an einer Ampel standen, sagte er, auch im Juni 1991 sei es kompliziert gewesen, seine Eltern in Stuttgart, die Schwester in Belgrad, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins in Zagreb und Banja Luka, und er, der »deutsche Sohn«, auf Schotterstraßen irgendwo in der serbischen Vojvodina mit dem serbischen Schwager unterwegs zur serbisch-kroatischen Grenze bei Vukovar.
    Banja Luka, Vukovar, weitere Schlagwörter dieses Krieges.
    Dubrovnik, Sarajewo. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück.

    Aber sie wusste nicht mehr, was in Banja Luka, Vukovar, Dubrovnik, Sarajewo geschehen war.
    Dann fielen ihr die anderen Schlagwörter ein, die diesem Krieg vor allem das Gesicht gegeben hatten: ethnische Säuberungen, Massenvergewaltigungen, Massengräber, Milosevic, Karadzic, NATO-Bombardements. Völkermord.
    Srebrenica, das Versagen der UNO, des Westens. Später Den Haag.
    Zu einem Ganzen ordneten sie sich nicht. Heute nicht, damals nicht.
    Die Ampel sprang auf Grün, sie fuhr an.
    Im Spätsommer 1991 saßen in der Stuttgarter Küche von Thomas Ilic’ Eltern fünf, sechs alte kroatische Männer und reinigten noch ältere Pistolen. Am Freitagmittag fuhren sie mit dem Transporter seines Vaters in die Heimat und schossen die alten Pistolen leer. Am Montagmorgen waren sie zurück und erzählten von Gräueltaten der kroatischen Serben, der bosnischen Serben, der Belgrader Serben.
    Irgendwann tauschten sie die alten Pistolen gegen neuere.
    »Rottweil 92«, sagte Thomas Ilic, »die Kollegen haben nicht alle erwischt.«
    Louise musste, trotz allem, lachen.
    Es blieb kompliziert. Die Schwester kam nach Stuttgart, ihr Mann ging nach Bosnien in den Krieg, später wurden sie geschieden. In Banja Luka und anderswo kämpften Kroaten mit Muslimen gegen Serben, Kroaten mit Serben gegen Muslime, Serben mit Muslimen gegen Kroaten. Die Verwandten flohen, manche starben, die übrigen wurden vertrieben. Lange vorher, im Dezember 1991, hatte Deutschland Kroatien und Slowenien als souveräne Staaten anerkannt, früher als mit den USA, der UNO, den meisten anderen EG-Ländern abgesprochen.
    Kroatische Radiosender spielten das Lied »Danke, Deutschland«, Cafés nannten sich »Genscher«. Die alten Männer in der Küche von Thomas Ilic’ Eltern schrien: Seht ihr, wir sind im Recht! Die Deutschen wissen das, und sie werden uns helfen!
    Einer von ihnen wurde bald danach in Bosnien-Herzegowina erschossen. Die anderen fuhren weiterhin übers Wochenende in den Krieg. Die Deutschen halfen nicht. Niemand half.
    Dann reichten den alten Männern die Wochenenden nicht mehr. Sie nahmen Urlaub. Heimaturlaub, Fronturlaub, scherzte Thomas Ilic’ Vater. Er verlangte, dass der Sohn mit ihnen in den Urlaub fuhr. Thomas Ilic blieb in Stuttgart. Er war Polizist, deutscher Polizist. In der Kantine seiner Dienststelle erzählte er von den Gräueltaten der kroatischen Serben, der bosnischen Serben, der Belgrader Serben.
    Sie hatten das Zentrum Offenburgs hinter sich. Thomas Ilic hielt den Stadtplan in der Hand und blickte aus dem Seitenfenster.
    Dann, sagte er, wurde es noch komplizierter. Auch die Kroaten, hieß es plötzlich, begingen

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