Braeutigame
und stellten es neben den Tisch mit dem Grammofon, dessen verbeulter Blechtrichter immer abfiel, weil sie an den Winterabenden so oft Schallplatten aufgelegt hatten, dass die Schrauben nicht mehr hielten. Als sie e s ausgepackt und an die Wand geschoben hatten, zog Elwira Dressner ihre Schuhe aus, legte zwei bestickte Kissen übereinander auf einen Stuhl, setzte sich und klappte den Deckel der Tastatur hoch. Sie blätterte in einem Notenbuch, wählte eines der Stück aus und begann, mit Strümpfen an den Füßen die Pedale zu treten. Bist du bei mir sang sie; Alma ka nnte das Lied von Lobgott. Elwira Dressner spielte es langsam , als woll te sie das neue Instrument schonen.
„Schön “, sagte Alma, als sie fertig war.
„Ich weiß“, s agte Frau Dressner. „Magst du mitsingen?“
„Was wollen wir denn singen?“
„Dieses Stück noch einmal. Bach.“
„Ist gut “, sagte Alma. Sie stellte sich neben Elwira Dressner, um das Notenbuch besser sehen zu können. Sie kannte den Text auswendig, aber sie fühlte sich sicherer, wenn sie ihn mitlesen konnte.
„Fertig?“, fragte Frau Dressner.
Alma nickte.
„Auf eins“, flüsterte Frau Dressner und zählte langsam: „Eins, zwei, drei...“
„ Bist du “, sang Alma – verschluckte sich und hustete. Frau Dressner hörte auf zu spielen.
„Komm, Mädchen, t ief durchatmen und dann gleich noch einmal. Es macht nichts. Beim ersten Versuch gelingt es nie. Eins, zwei, drei…“, flüsterte sie, und sie sangen.
Bist du bei mir, geh ich mit Freuden
Zum Sterben und zu meiner Ruh.
Ach, wie vergnügt…
Alma kam es vor, als setzte die Zeit aus. Kaum hatte sie zu singen begonnen, waren sie am Ende des Liedes, und sie hörte die letzte Luft aus den Blasebälgen des Harmoniums entweichen.
Lea stand mit geschlossenen Augen neben ihr, Frau Dressner sah lächelnd an die Zimmerdecke, und Boias Dressner, der mit der Schulter in der Stubentür lehnte, fragte sich, wann er seine Frau das letzte Mal so schön gesehen hatte.
Hellmuth Lobgott – der einzige Mann in Leipzig, der morgens nicht vor der Toilette ans Fenster trat und nach dem Wetter roch – wohnte am Ring in einem zinnoberrot gestrichenen Steinhaus neben der Kirche. „Mut mit h und Gott mit Lob“, sagte er, wenn er sich vorstellte. „Aha, ha.“
Die Sonne stand tief über den Hügeln im Südwesten, als Alma ihren Mantel überzog und sich mit den Notenbüchern unterm Arm zu Fuß auf den Weg machte. Im Windfang des Küsterhauses zog sie ihre Schuhe aus und klopfte an die Haustür. Dann drückte sie, ohne abzuwarten, dass man ihr öffnete, die Klinke und betrat die Diele, in der es nach Braten roch. Im Vorbeigehen auf dem Ring hatte sie Lobgott an der Orgel in der Kirche spie len hören. Er war noch nicht im Haus .
Alma hing Mantel, Mütze und Schal an einen Kleiderhaken und ging in die Küche, wo Hilli Turm den Boden fegte. Alma stellte sich in die Tür und wartete, bis Hilli sie von selbst bemerkte, denn sie war schreckhaf t – so sehr, dass es fast lustig war. Hilli trug ein blaues Kleid mit einem weißen Rundkragen, über das s ie sich eine fleckige Schürze gebunden hatte , zerknittert vom Kochen und Putzen . Ihre blonden Locken hatte sie hochgesteckt, damit sie bei der Hausarbeit nicht schmutzig wurden. Als sie Alma in der Tür stehen sah, ließ Hilli ihren Besen fallen und umarmte sie zur Begrüßung. Mit Händen und Lippen schickte sie Alma ins Vorderhaus – sie möge nur ins Musizierzimmer gehen und warten, er käme sicher gleich von nebenan, aus der Kirche.
Alma baute ihren zusammenklappbaren Notenständer auf, stellte die Gesangbücher darauf, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Klavier und gähnte . Um sechs war sie aufgestanden, hatte am Morgen im Kuhstall g ebuttert und den halben Tag hintendu rch Kraut gepflanzt. Hilli heizte Lobgotts Zimmer gut. Holzscheite knackten im Ofen, über dem ein ausgestopfter Biber mit einem angespitzten Ast im Maul an der Wand hing. Er war mit den Pfoten auf einen weißen Birkenstamm genagelt.
Alma stand a uf, um wach zu bleiben , und ging Lobgotts Bücher durch, die in Regalen und Glasvitrinen standen. Der Küsterlehrer, Jahrgang fünfundachtzig, konnte nicht nur Russisch und Rumänisc h, sondern auch Französisch. Als junger Mann hatte er das Lehrerseminar Werner in Sarata besucht, und er war der einzige, der an der Leipziger Schule gegenüber der Kirche auf Deutsch unterrichten durfte, da er für den christlichen Glauben der Kinder zuständig
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