Bragg 04 - Dunkles Verlangen
»Aber ich habe mich durchgesetzt, wie du siehst.«
»Na gut.« Dann wechselte er abrupt das Thema. »Du hast dich verändert, Jane. Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber du bist nicht nur älter und reifer geworden. Irgendwie habe ich das Gefühl …«
»Natürlich habe ich mich verändert«, sagte Jane. »Ich bin keine siebzehn mehr, sondern neunzehn. Ich bin heute nicht mehr so naiv, und ich verstehe mittlerweile eine ganze Menge vom Leben.« Viel zu viel, hätte sie eigentlich hinzufügen müssen, doch sie schwieg.
Wieder sah Lindley sie so intensiv an, dass sie den Blick abwandte. Sie war verbittert und traurig und wollte nicht, dass er davon etwas mitbekam. »Hat dir die Vorstellung heute Abend gefallen?«
»Sehr sogar«, sagte er leichthin. »Du bist eine wundervolle Schauspielerin, Jane.«
»Wundervoll«, wiederholte sie. Sie musste daran denken, wie die Zuschauer applaudiert hatten: begeistert zwar, aber nicht völlig außer Rand und Band. Natürlich würde sie am nächsten Morgen in der Presse gute Kritiken bekommen. Dass sie eine ebenso große Schönheit war wie ihre Mutter, hatte man ihr schon mehrfach bescheinigt. Einige Kritiker hatten sogar behauptet, dass sie noch schöner sei. Aber ob sie als Schauspielerin je die Klasse ihrer Mutter erreichen würde?
Sie stellte sich vor, wie er im Publikum saß, dunkel und schweigend, ausdruckslos, während sie oben auf der Bühne alles gab.
Sie rutschte unruhig hin und her. So viele Fragen, die ihr Herz, ihre Seele bedrängten. Am meisten bedrängte sie jedoch die Frage, wie es ihm gehen mochte und warum …
Warum hatte er nie versucht, sie zu finden?
Warum?
Kapitel 26
Lindley rief sich selbst immer wieder zur Vernunft. Aber schon am folgenden Morgen schickte er ihr einen Strauß weißer Lilien. Er mochte das makellose Weiß der Blumen, außerdem erinnerten sie ihn an Jane.
Er überlegte, warum sie so verändert war und was sie vor der Welt zu verbergen hatte.
Dann versuchte er sich vorzustellen, wie Shelton reagieren mochte, wenn er erfahren sollte, dass er – Lindley – sie gesehen hatte.
Lindley war hin und her gerissen. Er war ja nicht auf den Kopf gefallen und erinnerte sich nur zu gut an den Sommer vor knapp zwei Jahren. Er sah Jane wieder vor sich, die mit ihren großen blauen Augen nichts und niemanden wahrzunehmen schien als seinen Freund Nick. Er dachte an Shelton, der sich damals noch finsterer und reizbarer gezeigt hatte als sonst, und er wusste, dass Nick von ihr ebenfalls sehr beeindruckt gewesen war. Er konnte es noch immer nicht ganz fassen, dass Nick ihr tatsächlich erlaubt hatte, Schauspielerin zu werden.
Obwohl er sich über dies alles im Klaren war, bat Lindley Jane in einem kurzen Schreiben darum, sie zum Tee ausführen zu dürfen. Natürlich rein freundschaftlich, redete er sich ein. Die Einladung wurde von Janes Dienstmädchen höflich abgelehnt.
Als eine weitere Einladung ebenfalls abgelehnt wurde, sprach Lindley drei Tage später persönlich in der Gloucester Street vor, um nichts dem Zufall zu überlassen. Er war zwar nicht direkt in sie verliebt, dazu hatte er schon zu viel erlebt, aber er war von ihr fasziniert und musste ziemlich oft an sie denken. Molly führte ihn in den Salon. Kurz darauf erschien Jane – so verführerisch wie unschuldig – in einem weinroten Kleid.
»Hallo, Jon.« Sie war höflich, aber kühl. Aus ihren Augen sprach ein gewisses Misstrauen.
»Hallo, Jane.« Er nahm ihre Hand und küsste sie. Anders als beim ersten Mal vor zwei Jahren, zog sie die Hand nicht überstürzt zurück. Er überlegte kurz, wie viele Verehrer sie schon gehabt haben mochte. Und Liebhaber? Doch er schob den reichlich deplatzierten Gedanken rasch wieder beiseite. Aber er war gewiss nicht der einzige Mann, der sich für sie interessierte. Sie war eine sehr charmante, aber auch verwirrende Mischung aus Unschuld und souveräner Schönheit. Deshalb wusste er sie nicht recht einzuordnen. »Jane, ich habe das Gefühl, du willst mich nicht sehen.« Natürlich hatte er mit einem höflichen Dementi gerechnet. Anschließend wollte er sie dann mit seinem ganzen Charme zu einem Rendezvous überreden.
»Worum geht es?«
Er sah sie ungläubig an.
»Warum bist du gekommen?«
»Jane, du bist eine schöne Frau und eine gute Freundin habe ich jedenfalls bislang gedacht. Warum sollte ich dich nicht sehen wollen?«
»Ich habe in meinem Leben für nichts Zeit als für meinen Beruf«, sagte Jane bestimmt.
»Es fällt mir
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