Bragg 04 - Dunkles Verlangen
stark, dass sie begriff, wie es um ihn stand. Ihre Lippen öffneten sich, als sie nach Luft schnappte.
»Glaubst du wirklich, dass ich auch nur eine weitere Minute in deiner elenden Gesellschaft verbringen möchte?«, knurrte er. »Du bist wie alle Frauen: eine egozentrische Lügnerin. Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen.« Er ließ sie los. »Halte dich von mir fern«, warnte er sie. »Und das ist sehr ernst gemeint, Jane.«
Dann stieß er die Tür auf und verschwand in der Nacht.
Seine Worte ließen sie wie gelähmt zurück.
Ich bin nicht egozentrisch, und ich bin auch keine Lügnerin, dachte sie, und wieder strömten Tränen an ihren Wangen hinab. Sie kauerte sich gegen das Treppengeländer und war plötzlich unsäglich schwach. Dann traf sie die Wahrheit seiner Worte unvermittelt mit solcher Heftigkeit, dass es wehtat. ja, sie hatte gelogen, sie war egozentrisch gewesen. Sie hatte ihn um seine Tochter betrogen.
»Gott vergib mir«, flüsterte sie.
Und dann gewann wieder der Drang die Oberhand, ihre Tochter zu beschützen.
Sie musste ihn aufhalten. Sie musste verhindern, dass er Nicole fand. Sicher würde er das kleine Mädchen zu sich nehmen, und sie würde ihr Kind nie mehr zu Gesicht bekommen – erst recht, da er sie jetzt in diesem schlechten Licht sah. Einfach schrecklich, dass er ihr einen solchen Hass entgegenbrachte, doch sie drängte dieses Gefühl einfach beiseite. Er hatte ohnehin nie etwas für sie empfunden. Wenn sie es recht bedachte, sprach sogar alles dafür, dass er sie immer schon gehasst hatte. Also hatte sich im Grunde genommen ohnehin nichts geändert.
Wichtig war nur Nicole.
Jane schnappte sich einen Mantel und rannte nach draußen. Erst unten auf der verlassenen Straße begriff sie die missliche Lage, in der sie sich befand. Die nächste größere Straße war ein gutes Stück weit entfernt. Und nur dort war um diese Nachtzeit ein Einspänner zu finden. Außerdem war sie eine Frau, und dazu noch allein. Um diese Uhrzeit waren sonst nur Diebe und Prostituierte unterwegs und natürlich Obdachlose. In ihrer direkten Nachbarschaft gab es solche Leute nicht, doch schon ein paar Straßen weiter waren die Außenseiter der Gesellschaft stark vertreten. Jane zögerte nur kurz
Ihre Tochter gab ihr den Mut.
Während sie vorwärts hastete, dachte sie verzweifelt darüber nach, was sie tun konnte, um den Earl von seinem Vorhaben abzuhalten. Sie musste direkt nach Brighton fahren und mit Nicole die Flucht ergreifen. Doch sie hatte nicht genug Geld, sie brauchte Hilfe. Zuerst fiel ihr Robert ein, doch sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Gordon würde sehr rasch umfallen, wenn ihm der Earl nur ordentlich zusetzte. Er war von Anfang an dagegen gewesen, dass Jane die kleine Nicole vor dem Earl geheim hielt. Lindley. Lindley war groß und stark und hatte keine Angst vor dem Earl. Und er war reich genug, um ihr zu helfen.
Mitten in der Nacht zu Fuß durch London zu gehen, hatte etwas Beklemmendes. Sie sah rechts und links Prostituierte, die an Straßenecken standen, und Bettler, die schliefen oder betrunken vor Hauseingängen lagen. Einmal blieb sie sogar stehen, um sich vor einer Gruppe halbwüchsiger Schlägertypen zu verstecken, die auf Randale aus waren. Dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ein Stück weiter sah sie zwei Einbrecher, die gerade in ein Geschäft einstiegen.
Wo steckten nur die Bobbys?
Schließlich erwischte sie einen Einspänner. Eine halbe Stunde später traf sie bei Lindley ein.
Obwohl es schon zwei Uhr früh war, war Jane nicht zu bremsen. Sie hämmerte gegen die massive Eingangstür, zog immer wieder an der Glocke. Auf der Rückseite des Hauses schlugen Hunde an. Drinnen wurden Lichter angezündet: zuerst in einem Seitenflügel, dann oben und schließlich im ganzen Haus. Jane hämmerte unablässig gegen die Tür. Sie fing wieder an zu weinen. Sie betete, dass Lindley zu Hause sein möge. Dann wurde die Tür von einem ebenso verschlafenen wie konsternierten Bediensteten geöffnet, der sich erst noch die Jacke überstreifen musste.
»Ich muss unbedingt den Earl sprechen!«, rief Jane und drängte sich an ihm vorbei ins Haus. Und dann sah sie ihn auch schon, wie er die Treppe hinunterkam.
»Jane!«
»Ich bitte untertänigst um Verzeihung«, stammelte der Diener, »aber diese Dame …«
Doch Jane stand bereits vor Lindley, der sie in die Arme nahm. Sie klammerte sich an ihn. »Was ist los? Was ist denn passiert?«, rief Lindley.
Jane fasste ihn am
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