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Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Titel: Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Haenni
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hat Zeit. Die Terrasse ist nur spärlich besetzt. Wójcik schlägt vor, ein Sandwich zu konsumieren. »Eine Brahmsjause vielleicht?«
    »Sowas kennt man hier nicht«, bedauert der Chef.
    Mein Gast erklärt, dass es sich dabei um eine kräftige Brotmahlzeit handle, die auf einem Holzbrettchen serviert werde. Das Brett weicht mir dennoch nicht vom Kopf. Dafür wende ich mich an den Kellner und mache einen andern Vorschlag.
    »Wie wär’s mit der Kreation eines Brahmsrahmbratens? Ein durchkomponiertes Stück zum vierhändigen Verzehr. Oder eines Brahmsbrechbreis? Eines süßlichen Schwanengesangs für zahnlose Altstimmen mit taktloser Begleitung?«
      Entspanntes Gelächter. Im Anschluss daran bestellen wir etwas Richtiges. Zweimal das Tagesmenu für fast 30 Franken. Dazu Rotwein, aus Spiez. Der Gast soll einheimischen Rebensaft kennenlernen. Auch wenn’s weh tut.
    Meine umständliche Bestellung täuscht über meine Neugierde hinweg. Die wird sogleich gestillt.
    Wójcik erzählt unaufgefordert, dass er in der Staatsbibliothek zu Berlin den Nachlass des Dirigenten Hans von Bülow aufarbeite. Das persönliche Ziel liege im Verfassen einer Dissertation an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Warschau.
    »Was interessiert Sie an diesem Dirigenten?«, werfe ich ein. Ich gebe zu, seinen Namen zuvor noch nie gehört zu haben.
    »Bülow gilt als erster Stardirigent moderner Prägung. Mit seinem Sinn für publikumswirksame Aufritte erwarb er sich den Nimbus eines Genies.«
    »Aha. Demontieren Sie nun seinen guten Ruf?«, scherze ich.
    »Nein, nein. Das liegt mir fern«, beschwichtigt der Doktorand. »Immerhin fungierten Franz Liszt und Richard Wagner als seine Lehrmeister. Von 1887 bis 1893 dirigierte Bülow die Berliner Philharmoniker.«
    Ich hebe die Augenbrauen und senke die Mundwinkel. Dazu nicke ich respektvoll.
    Bülow habe Liszts Tochter Cosima geheiratet. Zusammen hätten sie zwei bis drei Töchter gezeugt.
    »Was soll das heißen? Zwei bis drei Töchter?«
    Mein Gast schmunzelt. »Es ist ungeklärt, ob er wirklich der Vater der dritten Tochter war.«
    »Mit den heutigen Testverfahren wäre diese Ungewissheit leicht auszuräumen«, werfe ich ein.
    »Stimmt. Damals entschied noch ein Prozess über die Vaterschaft.«
    »Wer käme sonst als Erzeuger infrage?«
    »Sie werden staunen, Herr Feller. Einer seiner verehrten Lehrer.«
    Ich warte.
    Er klärt mich auf. »Kein geringerer als Richard Wagner. Als die Dirigentengattin mit dem Komponisten eine Beziehung begann, endete die Freundschaft zwischen Bülow und Wagner. Bülows ließen sich daraufhin scheiden.«
    »Und das Mädchen?«
    »Isolde? Sie galt zu Wagners Lebzeiten als dessen Tochter. Im Jahr 1917 wurde seine Vaterschaft aber erfolgreich angefochten. Zudem tat Bülow drei weitere Dinge: Erstens verheiratete er sich umgehend mit einer Schauspielerin. Fast so, als wollte er seiner Exfrau seinen unversehrten Marktwert demonstrieren. Zweitens fehlten Wagners Werke fortan in den Aufführungen der Berliner Philharmoniker. Drittens offenbarte sich Bülow überraschend als glühender Verehrer eines lachenden Dritten: Johannes Brahms. Bis heute ist Hans von Bülows Bonmot überliefert, ›die erste Symphonie von Brahms sei die zehnte von Beethoven‹ . Damit trieb er dem erfolgsverwöhnten Wagner einen Stachel in den Ring seines nibelnden Fleisches.«
    »Ganz amüsant, worauf man beim Aktenstudium stoßen kann«, bemerke ich.
    Wójcik fährt fort: »Nun ja. Solche Episoden stehen nicht wirklich im Zentrum meiner Fragestellung. Und amüsant endeten sie für Bülow ja auch nicht. Er erlitt anlässlich eines Konzertes in Hamburg nämlich einen Schwächeanfall. Das ganze Gestürm muss ihm zu viel geworden sein. Gustav Mahler übernahm kurzfristig die Vertretung, während der angeschlagene Stardirigent Genesung im trockenen Klima Ägyptens suchte.«
    »Auch nicht schlecht.«
    »Doch schlecht, Herr Feller. Bülow starb nämlich weitab der Heimat im heißen Kairo. Sein Nachlass wurde darauf nach Berlin verfrachtet. Diese Dokumente sind es, die ich nun unter wissenschaftlichen Kriterien sichte. Dabei sind völlig überraschend die verschollenen Seiten der Thuner-Sonate aufgetaucht. Sie befanden sich zusammen mit anderen Papieren in einer unscheinbaren Mappe. Keiner kam bisher auf die Idee, diese Blatt für Blatt durchzusehen. Der Nachlass wird nur in der Staatsbibliothek als Depositum aufbewahrt. Darum können sich die Erben jetzt die Freiheit nehmen, die

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