Braig & Neundorf 12: Schwabenehre
über Annette Maiwald oder Nathalie und Matthias Binninger gespeichert hatten, einen Nachbarschaftskrieg etwa, bereits in der Vergangenheit erfolgte Denunziationen oder auch zur polizeilichen Kenntnis gebrachte Hinweise auf häusliche Gewalt – vergeblich. Es lagen weder Anzeigen noch Spekulationen über solche Geschehnisse vor. Dann muss ich die Frau also erst selbst in Augenschein nehmen und ihr, sollte sich die Vermutung der Nachbarin bestätigen, Hilfe anbieten, hatte sie sich überlegt.
»Was wollen Sie von meiner Frau?«, fragte der Mann.
»Ich denke, sie ist erwachsen. Das möchte ich ihr schon selbst mitteilen.«
»Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«
»Das ist sehr gut. Dann können Sie sie ja nach meinem Gespräch mit ihr fragen.«
Binninger bemerkte ihre unnachgiebige Haltung, schien zu resignieren. »Bitte«, sagte er, wies zum Haus, »tun Sie, was Sie offensichtlich nicht lassen können.«
Neundorf wandte sich von ihm ab, ging zur Haustür, wiederholte ihre Vorstellung, reichte der Frau die Hand. »Ich komme so früh, weil ich nicht wusste, ob ich Sie später noch antreffe.«
Nathalie Binninger ließ sie eintreten, führte sie durch die mit hellen Fliesen ausgelegte Diele in einen großen Wohnraum, der mit einem breiten Ecksofa, mehreren Sesseln, einem breiten rechteckigen Tisch und zwei mit Gläsern und Porzellan bestückten Vitrinen ausgestattet war, bat sie, Platz zu nehmen. Obwohl es längst hell war, schaltete sie die Deckenbeleuchtung ein, mehrere Strahler, die die Seite, auf der Neundorf sich niedergelassen hatte, in grelles Licht tauchten. Die Kommissarin sah sich geblendet, bat die Hausherrin, das Licht zu löschen.
»Es ist hell genug«, sagte sie, »das möchte ich meinen Augen nicht zumuten.«
Sie hatte den Plan der Frau sofort durchschaut. Nathalie Binninger war, von ihrem frühen Läuten überrascht, nicht mehr genug Zeit geblieben, ihre Gesichtsverletzungen sorgsam unter Make-up zu verstecken, wollte deshalb jetzt in den Schatten abtauchen.
»Bitte, ohne Licht«, insistierte Neundorf.
Die Frau blieb zögernd stehen, erfüllte dann, immer noch hin- und hergerissen, wie sie sich verhalten solle, stocksteif den Wunsch ihrer Besucherin.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie dann.
Sie bot ihr keinen Kaffee, keinen Tee, kein Wasser, überhaupt nichts an, wollte das Gespräch offensichtlich so kurz wie möglich gestalten. Die Beine eng zusammengepresst, setzte sie sich auf die Kante eines der Sessel.
»Sie waren vor zwei Tagen sehr früh, fast um diese Zeit wie jetzt, in einer Tankstelle und haben dort eingekauft. Eine Creme und eine Salbe.«
Nathalie Binninger starrte verblüfft zu ihr her. »Ja, und?«
Neundorf kostete die Überraschung ihres Gegenübers aus, musterte aufmerksam ihr Gesicht. Die Frau war wohl Ende Dreißig, Anfang Vierzig, hatte sich gut gehalten. Glatte, weitgehend faltenfreie Haut, blaugraue Augen, dunkle, mit einem Lidstrich nachgezogene Lider. Auf der linken Wange ein nur notdürftig übermalter Bluterguss, am Kinn rechts ebenfalls die Spuren eines Schlags. Ihre Ohren und die Haare waren unter der Kapuze des Hausanzugs verborgen, vielleicht weil sie weitere Merkmale ihrer Erniedrigung verstecken wollte.
»Deshalb kommen Sie hierher?«
»Die Tankstelle wurde überfallen«, versuchte Neundorf, die Bedeutung ihres Besuchs zu erklären.
»Diese Tankstelle?«
»Genau die. Haben Sie das nicht mitbekommen?«
»Ich habe in der Zeitung von einem Überfall gelesen. Aber ich wusste nicht, dass es sich um diese Tankstelle handelt.«
»Aber Sie müssen die Täter doch gesehen haben. Oder ein Auto mit zwei Männern, das in dem Moment vorfuhr, als Sie den Verkaufsraum gerade verlassen hatten.«
»Wie bitte? In dem Moment, als ich den Verkaufsraum verlassen hatte?« Sie schaute Neundorf mit verständnisloser Miene an, schüttelte dann ihren Kopf. »Ich habe niemand gesehen.«
»Vielleicht kamen die Täter auch zu Fuß. Oder sie versteckten sich irgendwo in der Nähe.«
»Na ja, das mag ja sein. Aber zu der Zeit war ich längst wieder weg.«
»Nein, eben nicht. Der Überfall erfolgte nur wenige Sekunden, nachdem Sie den Verkaufsraum verlassen hatten.«
»Wie bitte?« Nathalie Binninger sprang von der Sesselkante hoch, raffte den Hausmantel zusammen. »Das kann nicht sein.«
»Was heißt, das kann nicht sein? Wir haben Videoaufnahmen der Überwachungskameras.«
Die Frau lehnte sich an die Rückseite des Sessels, schüttelte den Kopf. »Das war eine
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