Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Laura?«, fragte Braig irgendwann am Abend, Ann-Sophie war längst in den Armen ihrer Tante eingeschlafen und dann zu Bett gebracht worden. »Ich habe sie nicht gesehen. Wollte sie nicht mit?«
»Nein, Laura ist seit acht Tagen in einem Freizeitheim auf der Alb.«
»Auf der Alb?«, fragte Braig. »Und wo da?«
»In Obergailingen. Nicht allzu weit von diesem …«
»Geigelfingen«, fiel er ihr ins Wort. Oft genug in den letzten Tagen waren ihm die Namen der beiden Nachbarorte Obergailingen und Untergailingen auf den Straßenschildern aufgefallen.
»Genau. Du bist mit dem Fall beschäftigt? Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Der Mann wurde von der Straße abgedrängt, wenn ich das richtig mitbekommen habe.«
»Wenn es nur das wäre«, seufzte er.
»Ihr habt noch keine Anhaltspunkte?«
Braig hob abwehrend beide Hände. »Zu viele. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Tut mir leid für dich, aber das ist ja wohl dein Alltag.«
Er nickte, wusste, wie ernsthaft sie sich mit seiner Arbeit auseinandersetzte. Oft genug in den letzten Jahren hatten sie sich intensiv über den Sinn und das Ziel, aber auch – mit aller gebotenen Diskretion – über die Inhalte seiner Ermittlungen unterhalten.
»Laura findet es langweilig«, fügte Theresa Räuber hinzu. »Nichts los auf der Alb«, meinte sie.
»Da bin ich inzwischen anderer Meinung«, erwiderte er grinsend. »Du glaubst gar nicht, was dort alles abgeht.«
»Das kann ich verstehen. Nein, Laura ist in falscher Gesellschaft. Lauter kleine Teenies. Zum ersten Mal über längere Zeit von Mama und Papa weg, lauter junge, verwöhnte Bälger. Das ist nichts für eine junge Frau, die ihre eigene Mutter über Jahre hinweg aus der Scheiße ziehen musste. Meine Schuld. Ich hätte es mir denken können. Sie langweilt sich halb zu Tode.«
»Aber ihr steht miteinander in Verbindung.«
»Jeden Tag. Manchmal zwei, drei Mal. Abends ist sie oft allein auf Tour. Das ist mir nicht so recht, aber was soll ich tun? Hier, das wollte ich dir zeigen. Eines der Fotos, die sie mir geschickt hat.« Sie schob ihr Handy über den Tisch, ließ Braig einen Blick darauf werfen.
Er betrachtete das anscheinend in der Dämmerung aufgenommene Bild, sah zwei Personen, eine Frau und einen Mann, Kartons in den Händen, auf einen kleinen Lastwagen zu …
Braig verharrte auf der Stelle, spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er warf erneut einen Blick auf den Lastwagen, betrachtete die Form und die Farbe, musterte dann die Gesichter der Frau und des Mannes. Nein, das war nicht möglich.
Er riss sich von dem Bild los, spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief, versuchte, Ruhe zu bewahren.
»Sie hat es spät am Abend aufgenommen, irgendwo am Waldrand. Keine Ahnung, was die da treiben, sie fand es nur sehr seltsam und irgendwie nicht ganz geheuer«, meinte Theresa Räuber.
Braig hörte nicht auf ihre Worte, starrte nur auf das Bild. »Vergrößern ist nicht möglich, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann muss ich meine Lupe holen«, erklärte er, das Handy zu sich herschiebend. »Ihr rührt es nicht an, klar?«
Ann-Katrin schaute von der Seite zu ihm her, betrachtete ihn aufmerksam. »Sag nur, du kannst was damit anfangen.«
Braig versuchte, nichts zu überhasten, lief in sein Zimmer, zog die Lupe aus der Schublade, setzte sich wieder an den Wohnzimmertisch.
»Wonach suchst du?«, fragte Theresa Räuber.
Er gab keine Antwort, hielt die Lupe über das Bild, starrte auf die Gesichter. Zuerst das der Frau, dann das des Mannes. Es konnte nicht wahr sein, unmöglich.
Seine Hand fing unwillkürlich an zu zittern, die Lupe schlingerte hin und her.
»Was ist los?«, fragte Ann-Katrin.
»Wahnsinn, der pure Wahnsinn«, stammelte Braig. Er bemühte sich, die Lupe still zu halten, starrte erneut auf das Bild.
Es konnte nicht wahr sein. Und doch gab es keinen Zweifel mehr.
22. Kapitel
Die Beerdigung am Dienstagmorgen war eine der größten, die Braig je erlebt hatte. Der kleine Geigelfinger Friedhof schaffte es nicht, all die Menschen aufzunehmen, die sich zur Bestattung Christian Fitterlings versammelt hatten. Unzählige dunkel gekleidete Frauen und Männer mussten mit dem holprig asphaltierten, durch die vielen Aufwölbungen mit gefährlichen Stolperfallen belasteten Eingangsbereich vorliebnehmen, um der Zeremonie beizuwohnen. Die winzige Friedhofskapelle hatte man für die Feierlichkeiten erst gar nicht in Betracht gezogen; der Gottesdienst war in der nahe gelegenen, kleinen
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