Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie
Anfang
Anspruch:
*
Metapherndichte: **
Lerneffekte:
****
Romantik:
*
Action:
***
Sex:
*
Onkel Erwin ist im Prinzip gar nicht mein Onkel, sondern
eine Ausgeburt der Hölle am Ende ihrer Sechziger.
Der erste Kontakt, an den ich mich bewusst entsinne, fand
auf dem Geburtstag meiner knurrigen Urgroßmutter statt, der allerdings nicht
Geburtstag, sondern »Wiegenfest« genannt wurde; der Name passte erstaunlich
gut, wie sich im Laufe des Abends herausstellte, da Uroma Erna nach dem
wahnhaften Verzehr unzähliger Kümmerlinge in der Tat begann, höchst irritierend
vor und zurück zu wippen.
Sie machte dabei von ihrem guten Recht einer schätzungsweise
Siebenundneunzigjährigen Gebrauch, Dinge hervorzustoßen wie »unser Ingo
ist sooo groß geworden«, »früher, als ich noch ein junges Mädchen war, bin ich
jeden Morgen siebenundzwanzig Kilometer zur Schule gelaufen«, wobei sie
»gelaufen« schrie, und »wenn wir nicht gespurt haben, gab’s vom Rektor Senge«,
wobei sie alles schrie.
Unser Ingo, schon damals etwa sechsunddreißig und massiv auf
den Kopf, nicht aber den Mund gefallen, umarmte sie dann ungelenk und presste
seine Lippen auf den Teil ihres Gesichts, wo er ihre Wange vermutete. Uroma
Erna war nicht arm und sehr empfänglich für die Sülzereien Ingos. Dessen
Darstellung von Zuneigung war derart bemitleidenswert, dass man ihm bei »Gute
Zeiten – schlechte Zeiten« den finalen Rettungsschuss verpasst hätte. Aber wenn
man wie er davon träumte, schon bald auf jedem beweglichen Teil seiner Wohnung
»Bang & Olufsen« stehen zu haben, legte man sich halt ins Zeug.
Uroma Erna war eine gepuderte Zeitmaschine mit blaustichigem
Haar, die streng nach Kräutergeist duftete, und Ingo kannte alle Hebel und
Knöpfe. Ich glaube sogar, mich zu erinnern, dass mein Bruder unserm Ingo etwas
wie »Lass mich auch mal, ich brauch ’ne Lederjacke« zuraunte, aber beschwören
will ich es nicht.
Während wir alle versuchten, das Jackpot-Feld auf einem
Glücksrad zu erwischen, das hin und her wippte, betrat Onkel Erwin die Bühne.
Onkel Erwin hatte vier Finger unter Tage verloren, und jede
Form halbwegs angemessener Bescheidenheit musste damals mit ihnen in die
Finsternis gepoltert sein. Sein Anzug – Größe sechsundzwanzig, was zwergenhaft
und pummelig bei Menschen, aber »stattlich« bei Herrenaustattern bedeutet –
schillerte schon beinahe fiebrig, und ich dachte zuerst, Rusty aus »Starlight
Express« wäre zu uns gestoßen.
Etwas, das Haarspray oder Gel sein konnte, glänzte auf
seiner Glatze.
Ich hatte immer den Eindruck, dass er den Verlust seiner
Haare nie richtig verwunden hat.
Seine linke Hand, die aussah wie ein geschmolzenes
Hundespielzeug, winkte in die Runde, seine Rechte hielt ein zellophanumhülltes
Objekt, das gut und gerne eine Vase, aber auch der abgetrennte Kopf von Marge
Simpson hätte sein können.
So stand er da: ein irisierender Gnom, Teil unserer Familie,
unerträglicher Pedant, Verschenker von No-Name-Pralinen, Träger von
Polyesterkrawatten mit Entenmotiven – eine Gestalt wie aus einem Fiebertraum
von Quentin Tarantino.
Er kniff uns Kids hart in die Wangen, vermutlich ein Relikt
aus den Tagen sowjetischer Gefangenschaft, und mein älterer, vom Eierlikör
leicht angetrunkener Bruder unterdrückte gut sichtbar den Reflex, Erwin eins in
die Fresse zu hauen.
Dieser ging endlich zum Kopf des Tisches, an dem das
»Geburtstagskind« wippte, und trug unter Zurschaustellung seiner Goldzähne
folgendes Gedicht vor:
Liebe Omma, wunderbar, heute wirst du (verstechnisch
holprige Zahl) Jahr!
Bleib immer fröhlich, immer munter
und mach unser Leben bunter!
Sei immer lustig und beschwingt, ein Hoch auf das …
Den Rest können Sie sich vermutlich denken.
Die von allerlei Likören Narkotisierten unter uns
applaudierten, meine Mutter fischte in ihrer Patchworktasche nach einer Kopfschmerztablette
und mein Bruder riss den Arm nach oben. Ich vermutete zuerst, er hätte ein,
zwei kleine Fragen nach Versmaß und Intonierung, aber er nutzte die eintretende
Stille, um stattdessen eine Bestellung aufzugeben.
Am Folgetag gestand er mir, dass sein Begehren eigentlich
einer westfälischen Spezialität, dem »Strammen Max«, Brot, Ei, Schinken,
gegolten hätte.
Durch die unkontrollierte Zufuhr von Eierlikör
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