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Bran

Bran

Titel: Bran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Falke
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ist nur ein Avatar, im Inneren des Archivs. Straner beeilt sich, den Ausgang zu erreichen und die Lichtbarriere zu durchqueren.
    Er steht im Freien. Die Morgensonne kommt eben über die schwarzgrünen Baumkronen in der östlichen Verlängerung der Mall. Die Säulenreihen der großen Tempel werfen geometrisch exakte Schatten. Es ist eine geistige Landschaft, kaum weniger synthetisch als die virtuellen Räume im Datenmassiv des Punktamtes. Die andere Person kommt nahezu zeitgleich heraus. Es ist Senatorin Winter. Ihre rote Haarmähne ist besonders auftrumpfend onduliert. Sie leuchtet im Licht dieses jungen Tages.
    »Guten Morgen, Senatorin.«
    »Guten Morgen.« Die Politikerin berührt ihr In-Ear, das daraufhin einen Sichtschutz über ihren Augen bildet, einen polarisierenden Schirm. Sie sieht ihn an. Ihre Augen sind grün, aber das muss nicht notwendig ihre natürliche Farbe sein.
    Straner sieht, dass sie überlegt, wer er sein könnte. Er ist ihr öfter begegnet. Aber natürlich merken die Senatoren sich nur die Namen und die Gesichter ihrer Kollegen. Deren Mitarbeiter prägen sie sich nicht ein.
    »Ein herrlicher Morgen.«
    »Ja.« Sie sieht ihn zerstreut an.
    »Ist Senator Richards auch da?«
    »Wer?«
    »Mir war, als hätte ich ihn ebenfalls ins Punktamt gehen sehen.«
    Die Senatorin schüttelt den Kopf. »Ich kenne keinen Senator Richards.«
    Straner wünscht sich, er könne den Inhalt seines Gedächtnisses genauso präsentieren wie das Archiv die in ihm gespeicherten Bilddokumente. Er sieht die Senatorin vor sich, wie sie Richards und Brighton zuprostet. Es ist bei irgendeinem Empfang, die drei stehen beieinander, lachen und trinken, wechseln die üblichen überheblichen Scherze. Vorne werden Reden gehalten und Toasts ausgebracht, denen niemand zuhört. Menschliche Hostessen tragen Tabletts mit Champagnerkelchen und Kanapees vorbei, während Hausbots die leeren Gläser und Teller wegräumen.
    »Senator Tobey Richards. Ich dachte, ich hätte ihn gerade noch gesehen.«
    Das Kopfschütteln wird energischer, als habe man einen Regler hochgefahren.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
    Wenn Straner damals gewusst hätte, dass es einmal so wichtig wird, hätte er sich seiner Netzhautadapter bedient und den Anblick auf seinen Schläfenimplantaten gespeichert. Er könnte sie jetzt mit dem Bild konfrontieren, das sein Tattoo direkt auf das ihre übertragen würde.
    Aber so befindet sich die Szene nur in seiner Erinnerung, und es gibt keine Möglichkeit, die Senatorin von der Lückenhaftigkeit ihres Gedächtnisses zu überzeugen.
    »Entschuldigen Sie.« Straner trottet die breiten Treppen hinunter, die zum penibel gepflegten Rasen der Mall führen. »Ich muss mich geirrt haben.«
    Die Senatorin sieht ihm nach. Die ausladende rote Mähne lässt sie wie eine der Fackeln erscheinen, die am Einheitstag auf den Stufen der Regierungsgebäude aufgepflanzt werden. Jetzt wäre es interessant, in ihrem Gesicht zu lesen. Ist sie ehrlich verwirrt oder verärgert? Fühlt sie sich ertappt?
    Straner wirft sich noch einmal herum, als tänzele er im Gehen gut gelaunt um seine Achse. Der Fokus seiner Irisimplantate bringt die Politikerin ganz nah heran. Aber sie ist wirklich nur zerstreut, ruft die Terminfunktion ihres Tattoos auf und geht dann mit hastigen Schritten in Richtung des Senatsgebäudes davon.
    Er verschränkt die Hände hinter dem Rücken und geht in dem gemessenen Tempo, dessen man sich hier zu befleißigen hat, die Mall hinunter. Die großen Tempel strahlen weiß im Licht der Sonne, die jetzt rasch höher steigt. Die Flächen der Seen, die sich südlich an den Grasstreifen der Mall anschließend, flimmern, wenn der Wind ihre Wellen bewegt. Um diese Zeit sind sie menschenleer. Nachmittags sind sie oft voller Ausflügler in Tret- und Ruderbooten, besonders in der schönen Jahreszeit, dem endlosen Nachsommer, der in diesem Jahr noch kaum begonnen hat.
    Straner muss gehen, als bewegten die Muskeln seiner Beine auch seine Gedanken.
    Irgendwo ist ein logischer Fehler.
    Wenn Richards aus den Archiven gelöscht wurde, wie kann es sein, dass lebende Menschen wie die Senatorin sich nicht mehr an ihn erinnern? Wenn Senator Brighton recht hat und es wirklich ein Komplott ist, erfordert er einen Aufwand, der lückenlos nicht aufrechtzuerhalten ist. Senator Richards ist in seiner Laufbahn einigen Hundert Senatorenkollegen begegnet, dazu Tausenden von Mitarbeitern, Regierungsangestellten, Journalisten und normalen Bürgern. Es ist

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