Bran
Absperrbändern, die zerschlissen in ihren Halterungen zappelten wie junge Hunde, die man loszubinden vergessen hatte. Das Pflaster war schwarz. Die vorsintflutliche Nacht, die alles bedeckte, ließ es nicht zu, die eingetrockneten Lachen menschlichen Blutes zu erkennen, die hier vor zwei oder drei Tagen geglänzt hatten.
Wie lange war das her? Es musste länger sein. Fünf Tage hiesiger Zeit? Er hatte zwei Nächte auf Rangkor verbracht, und die doppelte Zeitverschiebung von Hin- und Rückflug machte ihm zu schaffen.
In der Vorhalle brannte eine trübe Notbeleuchtung. Die gelben Lampen, die mit primitiven Aggregaten betrieben wurden, waren von Trauben schwarzer Qecha-Fliegen umschwärmt. Das Tor des großen Elevators war in offenem Zustand arretiert. Selbstleuchtende Bänder warnten vor dem Betreten des Schachtes, aus dessen bodenloser Tiefe ein unerträglicher Gestank herauftrieb. Vermutlich lagen irgendwo dort unten noch ein paar Leichen unter den Trümmern und gingen allmählich in Verwesung über.
Der kleine Elevator in der nordöstlichen Ecke war in Betrieb. Man hatte eine Stromversorgung mit mehreren hintereinandergeschalteten Energieblöcken improvisiert. Das Ganze sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, und diese Gondel fasste nur zwanzig Personen. Was war das in einer solchen senkrechten Stadt, deren Bevölkerung mehrere Zehntausend betrug? Dennoch war es in den Durchgängen zu den vier Treppenhäusern erstaunlich still. Die Leute bedienten sich hauptsächlich der Brücken zu den Nachbartürmen. Und wer das Haus nicht unbedingt verlassen musste, blieb einfach wo er war. Vermutlich gab es Tausende, die ihr ganzes Leben auf ihrer Etage, im Umkreis ihrer Schlafbox zubrachten. Kranke, Arbeitslose, Alte. Auch Familien mit Kindern. Es gab einen wohlorganisierten Tauschhandel, und in jeder zehnten Ebene einen kleinen Markt. Nur wer auswärts Arbeit hatte oder andere unaufschiebbare Gründe, musste den Turm verlassen.
Einige Jugendliche bretterten auf Scootern in die Vorhalle, setzten über die Absperrung hinweg und schossen senkrecht in den Elevatorschacht hinauf. Das ging natürlich auch. Nicht viele Leute gab es in der Schicht, die hier vegetierte, die einen eigenen Scooter besaßen; diese hier waren geklaut oder aus Schrott zusammengebaut. Man hörte, wie das Röhren ihrer überlasteten Antriebsaggregate sich in dem kilometerhohen Schacht nach oben arbeitete.
Straner sah sich um. Man hatte die verunglückte Elevatorplattform aus dem Schacht gezogen und an der Nordseite der Halle aufgestellt. Den unteren Teil, der zur Todesfalle für einhundert Menschen geworden war, hatte man mit Hämmern und anderen vorsintflutlichen Werkzeugen ausgebeult. Er zweifelte nicht daran, dass man die Gondel in ein paar Tagen wieder einsetzen und in Betrieb nehmen würde. Was blieb den Leuten anderes übrig?
Im fahlen Schein der Notbeleuchtung, das vom Gebrumm der Fliegenschwärme bewegt wurde wie von einem schmutzigen Vorhang, duckte er sich unter dem Absperrband hindurch. Er lugte in den Schacht. Die Wohntürme waren sehr tief verankert. Die Basements reichten bis zu zwanzig Stockwerke tief in den Untergrund. Dort unten gluckste bläuliches Licht. Der Gestank war unerträglich.
Straner kehrte ein paar Schritte tief in die Vorhalle zurück. Er atmete tief durch und füllte seine Lungen mit der vergleichsweise köstlichen Luft. Dann riss er einen Teil des linken Ärmels seines nagelneuen serafidischen Gewandes ab und band ihn sich als Mundschutz vors Gesicht. Er hangelte wieder in den Schacht. Dort bekam er einen Schlauch zu fassen, der an der Innenseite der nackten Betonwand nach unten lief, eine hydraulische Leitung vermutlich oder eine Zufuhr für die Schienen der Magnetschwebegeneratoren.
Er schwang sich in den Schacht und kletterte an dem Schlauch nach unten. Der Grund war versperrt. Straner sah kaum die Hand vor Augen. Er musste die Nachtsichtfunktion seiner Netzhautimplantate aktivieren, um sich in dem Chaos orientieren zu können. Dann erst begriff er: Man hatte am Grund des Schachtes damit begonnen, eine Art Auffangvorrichtung zu bauen. Aus schweren Stahlfedern und ziehharmonikaförmig gestauchten Trägern hatte man einen Prellbock errichtet, der im Fall eines neuerlichen Absturzes die Gondel auffangen und die Energie ihres freien Falls absorbieren sollte. Das war pure Verzweiflung! Eine mit hundert Menschen besetzte, frei schwebende Plattform, die aus achthundert oder tausend Metern Höhe in die Tiefe raste!
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