Brandeis: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
vorzuziehen.
»Ich gehe ins Bett«, sagte Marie.
Als er ging, begleitete sie ihn nicht wie sonst bis zur Tür.
Er fuhr langsam. Ließ den Streifenwagen im zweiten Gang rollen und den Blick über die Schneewälle rechts und links der schmalen Fahrspur schweifen. Zweimal hielt er an, entdeckte aber nicht das Geringste. Weder auf dem Spielplatz hinter dem Supermarkt noch im unübersichtlichen Gelände zwischen Rathaus und Boddendeich erfasste der Lichtkegel seiner Taschenlampe etwas anderes als glatte Schneeflächen, in die seit Tagen niemand einen Fuß gesetzt hatte. Ebenso wenig wie in die Vorgärten der Sommerhäuser links der Straße. Als er das Dorf hinter sich ließ, begann es wieder zu schneien. Im scharfen Wind trafen kleine, dichte Flocken fast waagerecht auf die Windschutzscheibe und nahmen ihm die Sicht. Er kniff die Augen zusammen und fuhr noch langsamer. Trotzdem sah er die dunkle Gestalt erst im letzten Moment.
Schwere Schlagseite, stellte Pieplow fest und entschied, sich den Zecher nicht in den Wagen zu holen. Hinter ihm herzurollen, bis er dort ankam, wo er hinwollte, war Service genug. Bis nach Kloster waren es höchstens noch dreihundert Meter.
Aber dann drehte sich die Gestalt halb um die eigene Achse, knickte in den Knien ein und verschwand aus Pieplows Blickfeld.
Verdammte Sauferei.
Widerwillig stieg Pieplow aus und ging ohne Eile um den Streifenwagen herum.
Auch das noch, dachte er. Thiel war der Letzte, dem er hätte begegnen wollen. Er packte ihn am Arm, um ihn hochzuziehen.
Als Thiel den Kopf hob, fiel das Scheinwerferlicht auf sein Gesicht.
»Ach du Scheiße.« Pieplow lockerte seinen Griff. »Wie ist das denn passiert?«
»Nicht so schlimm.« Thiel bemühte sich, deutlich zu sprechen. Seine Lippen waren geschwollen, der Kiefer schmerzte bei der kleinsten Bewegung. So weit er seiner Zunge trauen konnte, waren wenigstens die Zähne vollständig geblieben. Das Atmen war nicht leichter geworden, aber die geplatzte Augenbraue hatte aufgehört zu bluten, und die Übelkeit ließ sich aushalten.
Er hätte sich lieber allein weitergeschleppt, als sich schon wieder von einem Bullen aus der Patsche helfen zu lassen.
Andererseits … Dass der Streifenwagen acht Scheinwerfer hatte, die sich immer schneller drehten, war mehr als bedenklich.
Ein fremder Geruch von Tabakrauch und Gebratenem. Konserven, Brot und Getränke für mehrere Tage auf der Arbeitsfläche neben der Spüle. Die Decke auf dem Sofa und der halb volle Aschenbecher.
Pieplow zog seine Uniformjacke aus und setzte sich
in den Sessel am Fenster. Er fühlte sich in seiner eigenen Wohnung fremd.
Er spürte den dringenden Wunsch, den ganzen Krempel vor die Tür zu schmeißen und Thiel hinterherzujagen. Sich das eine oder andere Bier zu genehmigen und eine Weile in die Nacht hinauszustarren.
Vor allem aber – in Ruhe nachzudenken.
Ihm gefiel nicht, wie sich die Dinge entwickelten. Das Zwickmühlengefühl, das ihm zusetzte und heftiger wurde, je länger Thiel auf der Insel war.
Pieplow seufzte. Wenn er etwas partout nicht ausstehen konnte, dann war es das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Weder im konkreten noch im übertragenen Sinne des Wortes. Das war jedenfalls seine Erfahrung und wohl auch der tiefer liegende Grund, warum er diese Wohnung immer noch hatte. Hierher könnte er ausweichen, wenn, was der Himmel verhüten möge, auch das Leben mit Marie zu eng würde. Bei jeder Frau war es bisher so gekommen. Früher oder später.
Kein schöner Gedanke. Er verscheuchte ihn wie ein hässliches Insekt.
Außerdem gab es Naheliegenderes.
»Ich sollte Sie zum Arzt bringen«, sagte er, als Thiel aus dem Badezimmer kam.
»Nicht nötig, es geht schon.« Thiel hatte sich das Gesicht gewaschen und ein breites Pflaster über die Augenbraue geklebt.
Pieplow sah zu, wie er, eine Hand gegen die Rippen gepresst, zum Sofa humpelte und nach seinem Tabak griff, als er schließlich saß. Seine geschwollenen Hände brachten mühsam eine krumme Zigarette zu Stande.
»Die Männer, die Sie zusammengeschlagen haben, können Sie die beschreiben?«
»Nein. Ich weiß nur, dass es zwei waren. Wo der Weg zum Kino abzweigt, müssen sie auf mich gewartet haben. Keine Ahnung, woher die wussten, dass ich dort langgehen würde. Sie sind abgehauen, bevor ich ihre Gesichter sehen konnte.«
»Und was ist mit Größe, Stimme, Kleidung?«
»Nichts. Tut mir leid.«
Gar nichts tut dir leid, dachte Pieplow. Du willst niemanden
Weitere Kostenlose Bücher