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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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ich mich selbst unwiderruflich der Fähigkeit
beraubte, jemals wieder überrascht zu sein. Aber immer noch kann
ich verblüffen. Ich schaffe es noch immer, daß sich der
Leser zurücklehnt und versucht herauszufinden, wie er gefoppt
worden ist.

Auf dem Postamt lag ein Brief von den Clearys. Ich steckte ihn in
meinen Rucksack zu Mrs. Talbots Magazin und ging hinaus, um Stitch
loszubinden.
    Er hatte seine Leine so langgezogen, wie es nur eben ging, und
saß um die Ecke – halb stranguliert – und beobachtete
ein Rotkehlchen. Stitch bellt nie, nicht einmal bei Vögeln. Er
hat nicht einmal geblafft, als Dad seine Pfote nähte. Wir hatten
ihn im überdachten Eingang des Hauses vorgefunden; er hatte nur
dagesessen, ein wenig gezittert und Dad die Pfote hingehalten, damit
er sie sich ansah. Mrs. Talbot sagt, er sei ein
furchteinflößender Wachhund, aber ich bin froh, daß
er nicht bellt. Rusty hat immer gebellt, und was hat es ihm
eingebracht!
    Ich mußte Stitch um die Ecke zerren, bis ich genug Leine
frei hatte, um ihn losbinden zu können. Es bedurfte einiger
Anstrengung, denn er mochte das Rotkehlchen wirklich. »Es ist
ein Frühlingsbote; stimmt’s, alter Junge?« sagte ich,
während ich mich abmühte, mit dem Fingernagel den Knoten zu
lösen. Es gelang mir nicht, aber ich schaffte es, mir mal eben
den Fingernagel abzubrechen. Na großartig. Mom wird darauf
bestehen, zu erfahren, ob mir häufig Fingernägel
abbrechen.
    Meine Hände sind wirklich reichlich ramponiert. In diesem
Winter hat mir unser dämlicher Ofen für Holzfeuerung
hundert Verbrennungen auf dem Handrücken eingebracht. Eine
Stelle knapp oberhalb des Handgelenks wurde immer wieder und wieder
verbrannt, so daß sie nie abheilen konnte. Der Ofen ist zu
klein, und jedesmal, wenn ich versuche, eines von den zu langen
Holzscheiten hineinzubekommen, schramme ich mir innen im Ofen
dieselbe Stelle. Mein blöder Bruder David sägt sie nie auf
die richtige Länge. Ich habe ihn gebeten, sie kürzer zu
sägen, aber er achtet einfach nicht auf mich.
    Ich habe Mom gebeten, ihm zu sagen, daß er die Holzscheite
kürzer sägen soll, aber sie tat es nicht. Sie kritisiert
nie, was David tut. Sie glaubt einfach nicht, daß David etwas
falsch machen kann, weil er dreiundzwanzig ist und verheiratet
war.
    »Er macht es absichtlich«, habe ich ihr gesagt. »Er
hofft, daß ich mich zu Tode verbrenne.«
    »Paranoia ist die häufigste Todesursache
vierzehnjähriger Mädchen«, erwiderte Mom. Das sagt sie
jedesmal. Es macht mich so krank, daß ich sie am liebsten
umbringen würde. »Er macht es nicht mit Absicht. Du
mußt nur vorsichtiger sein mit dem Ofen, das ist alles.«
Aber während der ganzen Rede hielt sie meine Hand und
betrachtete die große Verbrennung, die nicht heilen will; wie
eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen kann.
    »Wir brauchen einen größeren Ofen«, hatte ich
gesagt und ihr die Hand entrissen. Wir brauchen wirklich einen
größeren Ofen. Dad hatte den offenen Kamin zugemauert, und
den Ofen für Holzfeuerung geholt, als die Gasrechnung
astronomische Höhen erreichte, aber es ist nur ein kleiner, weil
Mom sich gegen einen größeren gewehrt hatte, der im
Wohnzimmer zuviel Platz beansprucht hätte. Wie es sich ergeben
hatte, feuerten wir ihn nur an den Abenden.
    Wir werden keinen neuen bekommen. Alle arbeiten eifrig an dem
dämlichen Gewächshaus. Vielleicht wird der Frühling
klar, und meine Hände bekommen eine Chance zu heilen. Aber ich
habe meine Zweifel. Im letzten Frühjahr ist der Schnee bis Mitte
Juni liegengeblieben, und jetzt haben wir erst März. Stitchs
Rotkehlchen wird sich seinen kleinen Schwanz abfrieren, wenn es nicht
zurück in den Süden fliegt. Dad sagt, das letzte Jahr sei
außergewöhnlich gewesen, und das Wetter würde in
diesem Jahr besser; aber wenn er wirklich überzeugt davon
wäre, würde er nicht dieses Gewächshaus bauen.
    Sobald ich mich nicht mehr mit Stitchs Leine beschäftigte,
kam er freiwillig um die Ecke wie ein braver Junge, setzte sich und
wartete, daß ich damit aufhörte, an meinem Finger zu
saugen, und ihn losbände. »Wir beeilen uns besser«,
sagte ich. »Mom bekommt sonst Zustände.« Ich hatte den
Auftrag, in den Gemischtwarenladen zu gehen und nach Tomatensamen zu
schauen; aber die Sonne stand schon reichlich tief im Westen; und der
Heimweg würde mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.
Wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause käme,
würde ich ohne Abendbrot ins Bett müssen und den

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