Brandwache
Stitch wirklich. Üblicherweise sage ich zu
ihm: »Paranoia ist die häufigste Todesursache bei
Hunden«, aber in diesem Augenblick wollte ich nichts, als
daß er sich beeilte, bevor meine Füße abfroren. Ich
begann zu laufen, und wir kamen ungefähr gleichzeitig am
Fuß des Berges an.
Stitch hielt am Fahrweg zum Haus Talbots inne. Unser Haus befand
sich ungefähr hundert Meter von hier entfernt, auf der anderen
Seite des Berges. Unser Haus steht unten in einer Art Brunnenschacht,
der durch Hügel zu allen Seiten gebildet wird. Es steht so tief
und versteckt, daß man es nie dort vermuten würde.
Über Talbots Hügel hinweg kann man nicht einmal den Rauch
aus unserem Ofen sehen. Durch das Anwesen der Talbots verläuft
ein Abkürzungsweg, der hinab durch das Wäldchen hinter
unser Haus führt; aber ich benutze ihn nicht mehr.
»Dunkel, Stitch«, sagte ich scharf, und er fing wieder
an zu laufen. Er hielt sich dicht an meinen Fersen.
Der Peak färbte sich schon rosa, als wir an unseren Fahrweg
kamen, Stitch hat bestimmt hundertmal an die Fichte gepinkelt, bevor
ich darauf bestand, daß sie über den schlammigen Fahrweg
gelegt wurde. Sie ist riesenhaft. Im letzten Sommer haben Dad und
David sie umgehauen und dann dafür gesorgt, daß es so
wirkte, als sei sie über die Straße gefallen. Sie
überdeckt vollständig die Stelle, an der unser Fahrweg in
die Straße einmündet; aber der Wurzelstrunk steckt voller
Splitter, und ich schürfte mir die Hand genau an der gewohnten
Stelle auf. Großartig.
Ich vergewisserte mich, daß weder ich noch Stitch Spuren auf
der Straße hinterlassen hatten (außer den Spuren, die er
immer hinterläßt – ein anderer Hund hätte uns in
einer Minute aufgestöbert. Das ist vermutlich auch die
Erklärung dafür, wie Stitch sich vor unserer Veranda
aufführte; er witterte Rusty). Und dann machte ich, so rasch ich
konnte, daß ich unter den Schutz des Hügels kam. Stitch
ist nicht der einzige, den die Dunkelheit nervös macht. Und
außerdem fingen meine Füße an, weh zu tun. Stitch
war heute abend richtig paranoid. Er hörte nicht einmal auf, zu
rennen, als wir in Sichtweite des Hauses waren.
David war draußen und brachte eine Fuhre Holz ein. Ich warf
nur einen kurzen Blick darauf und sah schon, daß alle Scheite
die falsche Länge hatten.
»Du bist reichlich spät, oder?« sagte er.
»Hast du den Tomatensamen bekommen?«
»Nein«, erwiderte ich. »Aber ich habe dir etwas
anderes mitgebracht. Ich habe allen etwas mitgebracht.«
Ich ging ins Haus. Dad rollte auf dem Wohnzimmerboden
Plastikbahnen aus. Mrs. Talbot hielt ein Ende für ihn. Mom hielt
den Spieltisch fest – noch zusammengeklappt – und wartete,
daß die beiden fertig würden, um den Tisch zum Essen vor
den Ofen setzen zu können. Keiner der Anwesenden blickte auch
nur auf. Ich nahm meinen Rucksack ab und holte Mrs. Talbots Magazin
und den Brief heraus.
»Auf dem Postamt lag ein Brief«, sagte ich. »Von
den Clearys.«
Alle sahen auf.
»Wo hast du ihn gefunden?« erkundigte sich Dad.
»Auf dem Boden, zusammen mit anderem Gerümpel. Ich habe
nach einem Magazin für Mrs. Talbot gesucht.«
Mom lehnte den Kartentisch gegen die Couch und setzte sich hin.
Mrs. Talbot blickte mich verständnislos an.
»Die Clearys waren unsere besten Freunde«, sagte ich.
»Sie waren aus Illinois. Sie sollten uns im vorletzten Sommer
besuchen kommen. Wir wollten Pikes Peak besteigen und alles
mögliche.«
David schlug die Tür zu. Er sah zu Mom auf der Couch, zu Dad
und Mrs. Talbot, die noch immer das Stück Plastik hielt; sie
wirkten wie Statuen. »Was stimmt nicht?« fragte er.
»Lynn behauptet, sie hätte heute einen Brief von den
Clearys gefunden«, erklärte Dad.
David ließ die Holzscheite auf den Herd fallen. Eines
kollerte auf den Teppich und blieb vor Moms Füßen liegen.
Niemand bückte sich, um es aufzuheben.
»Soll ich ihn laut vorlesen?« fragte ich und sah Mrs.
Talbot an. Ich hatte immer noch ihr Magazin in der Hand. Ich
öffnete den Umschlag und zog den Brief heraus.
»Liebe Janice, lieber Todd und alle anderen«, las ich.
»Wie stehen die Dinge im herrlichen Westen? Wir sehnen uns
danach, zu Euch zu kommen und zu sehen, wie es Euch geht; aber wir
werden es nicht so bald schaffen, wie wir gehofft haben. Wie geht es
Carla und David und dem Baby? Ich kann es kaum erwarten, den kleinen
David wiederzusehen. Kann er schon laufen? Ich möchte wetten,
Oma Janice ist sehr stolz darauf, ihre Britches auftragen zu
können. Habe
Weitere Kostenlose Bücher