Brann 01 - Seelentrinkerin
»Ich weiß, du würdest dich nicht für zehntausend davon trennen.« Er strich ihr Haar beiseite, küßte sie in den Nacken und ging hinaus, pfiff eine beschwingte Melodie, bei der sich Branns Lippen widerwillig zu einem zärtlichen Lächeln verzogen.
In geruhsamer Zufriedenheit putzte sie das Kännchen.
Im Spiegel des schwarzen Glanzes der Kanne verschwimmt ihr vom weißlich-seidigen Haar gerahmtes Frauengesicht, verlängert sich zum schmalen Gesicht eines übermütigen Mädchens mit unordentlichen mausgrauen Zöpfen und schmuddligen Händen, die für die Arme zu groß aussehen. Es sitzt auf einer grasigen, von hohen Zedern gesäumten Lichtung, auf den Knien einen Zeichenblock, auf dem es Eindrücke einer Herde kleiner pelziger Coynos festhält, die im Gras umherhüpfen ...
Am Tag der Zerstörung Arth Slyas rumpelte der Tincre-al. Brann beugte sich vor und stützte beide Handteller neben sich ins Gras, spürte im harten rötlichen Untergrund die Erdstöße, kostete die Wüstheit des Berges aus. Sie warf den Zeichenblock zur Seite, ergriff eine niedrige Astspitze, zog sich hoch, riß weit die Augen auf, als sie das schaurige Schlottern des Baums fühlte. Rings um sie ächzten und zitterten die Zedern, während sich unter ihnen die Erde aufbäumte und Vögel, diesmal ruhiger als die Erde, sich himmelwärts emporschraubten, ein stets größerer, dichterer Schwärm in Rot, Schwarz und Blau, fleckigem Braun, Weiß leuchtete, Krähen, Spatzen, Lerchen, Mondfisch-Schnäpper und andere Taucher, Mojays, Kleiber, Meisen, sie kreisten immer höher, erfüllten die Luft mit ihrer Furcht. Sie umklammerte die nadelreichen Zweige der Zeder, begann sich gleichfalls zu fürchten, als das Beben und Dröhnen des Erdreichs weiterging, bis sie selbst zitterte. Nach einer Zeitspanne, die eine Ewigkeit zu währen schien, wurde der Berg still, das ferne Donnern der Bergrutsche verstummte, das Beben verebbte, und Slya sank erneut in unruhigen Schlummer.
Brann spreizte die Hände, besah sich das klebrige, scharfriechende, auf Handflächen und Finger geschmierte Harz, schnitt eine Fratze und rannte durchs Gras zum Ufer des Bachs, zu dem Stein, auf dem sie sich häufig sonnte, einem flachen Findling, der ins Wasser ragte. Mitten auf dem Felsbrocken blieb sie stehen, um den Ottern zuzuschauen, die sich aus ihren verwüsteten Bauten befreit hatten und nun das gezauste Fell putzten, beobachtete die Vögel, wie sie erneut in den Baumkronen niedersanken und den Himmel leer hinterließen, abgesehen von ein paar Schäfchenwolken über dem breiten schneebedeckten Gipfel des Tincreals. Zum erstenmal war sie allein an einem seiner Abhänge gewesen, während eines der Beben stattfand, die an warmen Frühlingstagen stets öfter auftraten. Ein Vorzeichen kommenden Unheils, sagte die Yongala, packt für den Fall, daß wir vor ihrem Zorn fliehen müssen, was ihr braucht. Und Ältester Ohm Eornis hatte Geschichten aus seines Urgroßvaters Zeiten erzählt, als Slya schon einmal erwachte. Mit einem Kichern der Beklommenheit klatschte Brann in die Hände, tanzte auf dem Felsklotz den Yongala-Tanz, sie sang das Schlaflied für den Berg und des Berges Herz — Arth Slya, Slyas Heim —, für Slya, die Schutz gewährte, die den Frühling erwärmte, dem Tal im Winter eine gewisse Behaglichkeit bot, für Slya, die Feuer in den Brennöfen von Branns Vater entfachte, für die Schlafende Göttin Slya, die mächtige Hüterin und gefährliche Nachbarin. Sie sang »Slya erwacht«.
»Slya erwacht,
Berg kracht.
Lüfte hallen,
Felsen fallen.
Aschenhauch tötet auch.
Schlaf, Slya — Slya, schlaf:
Yongala tanzen für dich Träume.
Regt Slya die Beine, schmelzen gar Steine.
Rote Flüsse brodeln, brausen,
Finsternis bringt Grausen.
Tiere flugs entfleuchen,
Menschen sich verkreuchen,
Giftdünste Haine verseuchen.
Schlaf, Slya — Slya, schlaf:
Yongala tanzen für dich Träume.«
Gleichzeitig hingerissen und furchtsam tanzte Brann sich, während sie sang, um die Gottheit zu ehren und zu besänftigen, den Schrecken aus dem Leib; dann machte sie sich auf die Suche nach Seifkraut, um sich das schwärzliche Zedernharz von den Händen zu waschen.
Geh weiter zurück in den Erinnerungen, besinn dich auf den Tagesanbruch, den letzten Morgen, an dem Arth Slya heil blieb.
An jenem letzten Morgen, der keinen andersartigen Eindruck als jeder beliebige Morgen erweckte, hatte Brann nach dem Frühstück und der Erledigung ihrer morgendlichen Hauspflichten die Küche
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