Brann 03 - Das Sammeln der Steine
Loblied auf Amortis, das der Mutri-mab angestimmt hatte, sang nach einem Weilchen ebenfalls mit, um nicht durch Schweigen Verdacht zu erregen. Nicht nur die Sorge um Yaril plagte Jaril. Geschlechtsreife, entsann sich Brann, eine Art der geschlechtlichen Reifung hat eingesetzt. Er muß zu seinesgleichen, er ist reif zur Paarung, doch in der hiesigen Wirklichkeit ist Yaril die einzige weibliche Angehörige seines Volkes. Sie ist mehr als bloß seine Schwester, sie ist seine Zwillingsschwester. Das ist eine Lage, die ins Unheil führen kann, überlegte sie, man könnte geradezu von einem Trauerspiel reden. Es darf keine Verzögerung mehr geben, ich muß dafür sorgen, daß sie heimkehren können. Schon der Gedanke daran tat ihr so sehr weh, daß sie voraussah, ihr würde das Herz lange bluten müssen, ehe sich dieser Klumpen Schmerz löste; zweihundert und mehr Jahre hindurch waren sie ihre Kinder gewesen, ihre Zöglinge, mit denen sie an Körper und Geist ein enges Band verknüpfte. Aber welche Wahl blieb ihr? Alle Kinder gingen irgendwann. Das war nun einmal der Lauf des Daseins.
Jaril spürte etwas von ihrem Kummer, schmiegte sich noch näher an sie, versuchte sie ohne Worte zu trösten.
»Es dauert nicht mehr lang«, sagte Brann. Das Singen der anderen Fahrgäste übertönte ihre Äußerung, doch selbst falls jemand sie hörte, wäre es nicht schlimm; es handelte sich um eine Art von Bemerkung, wie jeder sie ab und zu in diesem oder jenem Zusammenhang machte.
*Hast du dir inzwischen überlegt, wie wir vorgehen wollen, Brombeer?* Seine geistige Stimme verriet eine gewisse Bitterkeit; er vertraute Brann, fürchtete jedoch Amortis und zürnte zutiefst Maksim, weil er sie im Stich gelassen hatte.
»Nicht«, flüsterte Brann. »es gibt Ohren, die uns belauschen könnten, es aber um keinen Preis dürfen.« Sie seufzte. »Nein, ich hab's nicht. Noch weiß ich zuwenig. Schau nach vorn, Jay, dort liegt der Heilige Felsen, in der Morgenfrühe werden wir ihn erreichen. Wir werden als erstes Umschau halten und herausfinden, was denn nun was ist.«
Der Heilige Felsen erhob sich wie ein aufgetauchter Wal aus der steinigen Ebene — der Tark —, die sich von den nebeligen Schilfmooren am Zusammenfluß der drei Ströme bis zu den südlichen Ausläufern der Dhia Asatas erstreckte. Auf der höchsten Stelle des Heiligen Felsens ragte schwarz und wuchtig die dreistufige Sihba-raburj gegen den Sonnenuntergang empor. Darüber dehnte sich noch dunkelblauer, mit Tupfern ähnlichen Wolken gesprenkelter Himmel, die Farbtöne der Wölkchen reichten von hellem Korallenrosa am Scheitelpunkt des Himmelsgewölbes bis zu Zinnoberrot im Westen, wo die Sonne in einem Meer geschmolzenen Goldes zu schwimmen schien. Dort lag die Heilige Stadt Havi Kudush. Die Stadt der Wohlklingenden Zungen, wo fromme Hände Abertausende und Abertausende warmer, goldgelber Ziegel geschleppt, zu Abertausenden und Abertausenden von Lagen aufgeschichtet, Ziegel um Ziegel angehäuft hatten zu geschrägten Mauern und die dreistufige, stumpfkegelige Pyramide errichtet, die Sihbaraburj, Amortis' Großen Tempel, das Herz Phras', einen von Menschen emporgetürmten Berg mit zwanzigtausend Kammern, in denen ihre Priester-Diener wohnten, geweihte Tempelhuren ihren Liebesdienst versahen, Heiler und Seher Verheißungen machten, die sich manchmal sogar bewahrheiteten, wo Tänzer und Sänger, Liederschreiber und Musikanten lebten und wirkten, es Künstler und Handwerker aller Gewerbezweige gab, Gold- und Silberschmiede, Bronze- und Kupferschmiede, Edelsteinschleifer und Steinmetze, Töpfer und Weber, Maler, Stickerinnen und Spitzenklöpplerinnen sowie vielerlei andere, alle schufen sie zu Ehren Amortis' Wunder — und das Geld, das sie einnahmen, indem sie, was sie herstellten, als Opfergaben oder Andenken an Pilger verkauften. Auf den Festlichkeiten der Heiligen Stadt Havi Kudush flossen Milch und Honig, aus ihren Lagern und Kellern gewährten sie Stärkung und Erquickung im Überfluß. Füllt euch den Bauch, geboten die Lobgesänge, vergnügt euch bei Tag und Nacht, jeder Tag soll ein Freudentag sein, musiziert und tanzt, dies ist das helle Land des Lichts, in dem alles feiert und gefeiert wird, musiziert und tanzt, preist Amortis, die Wonnespenderin, preist sie voller Lust und Frohlocken.
Als die Sonne gesunken war, hielt die Barke; nach dem Wechsel der Gespanne wurde die Fahrt fortgesetzt. Die Zugochsen stapften gleichmäßig den Treidelpfad entlang, waren die Dunkelheit
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