Brans Reise
Beste für deinen Freund willst, lässt du mich das machen.«
Bran half ihm, die Stoffstreifen festzubinden. Er faltete einen davon zusammen und presste ihn in die Austrittswunde, wo Hagdar am stärksten blutete. Dann sah er zur Schulter auf. Der andere Pfeil ragte bis tief in die Brust hinein. Wenn er so lang war wie der erste, reichte er ungefähr eine Handbreit tief. Bran kannte das Innere einer menschlichen Brust nicht. Wenn er aber die Hand auf seine Rippen legte, spürte er das Herz dort drinnen schlagen. Oft hatte er auch Hirschherzen herausgeschnitten, und er wusste, dass sie weit oben unter dem Brustbein des Tieres lagen. Turvi meinte, das Herz sei beim Atmen behilflich. Bran wusste, dass ein Tier, das mit einem Pfeil ins Herz getroffen wurde, schneller starb, als es zu Boden fallen konnte. Deshalb verstand er, dass dieser Pfeil aus Hagdar herausmusste, bevor die Spitze sein Herz zerkratzte. Er nickte Vare zu, damit Hagdar nichts hörte. Der Skerg nahm das Messer, und Bran hob den schweren Oberkörper in seinen Schoß.
»Ihr müsst mich festhalten…« Hagdars Stimme klang müde. Er hatte Schaum vor dem Mund. Als Bran seine Arme um ihn schlang, begann Hagdar zu weinen. Das wunderte Bran, denn er hatte ihn nie zuvor weinen sehen.
Vare schnitt Hagdars Hemd auf und klappte den Stoff an den fleischigen Schultern nach unten. Der Pfeil hatte sich hinter dem Schlüsselbein ins Fleisch gebohrt, und die Haut war um den dicken Pfeilschaft herum geschwollen. Der Skerg warf einen raschen Blick auf Bran. Als er sah, dass der Tileder seine Arme um den Verwundeten gelegt hatte, begann er zu schneiden.
Hagdar war ganz still, während Vare sich mit dem Messer vortastete. Er fauchte wie eine riesige Kreuzotter, zitterte und zuckte in Brans Armen, doch nur zwei Mal schrie er auf. Das eine Mal, als Vare mit dem Messer hinter dem Schlüsselbein in die Tiefe fuhr, um den Pfeil zu lösen, und das andere Mal, als er den Pfeil mit einer kreisförmigen Bewegung freischnitt. Er bäumte sich wie ein Wildpferd auf, als Vare den Pfeil herauszog, und verlor dann jegliche Kraft.
»Das wäre erledigt.« Vare riss dem nächstbesten Toten den Umhang weg, schnitt ihn in Fetzen und begann, diese über die Wunde zu legen. »Aber der Pfeil hat tief gesessen. Ich musste weit in seine Brust hineinschneiden.«
Der Skerg stand auf. Bran sah zu der blutigen Rüstung empor.
»Ich weiß, dass er dein Freund ist, Bran. Es muss schlimm für dich sein, dass Cernunnos ihn schon so früh zu sich nimmt.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Bran blieb bei Hagdar sitzen. Vares Worte hingen in der Luft. Sie waren nicht schwer zu verstehen. Bran sah auf den Körper hinab, den die Pfeile der Aardmänner heimgesucht hatten, den Mann, der immer so stark gewesen war und der immer, auch in dem Moment, da sie beide geträumt und unterschiedliche Wege gesehen hatten, sein Freund geblieben war. Sein Gesicht trug jetzt kein Lachen. Er schlief.
Die Stadt der Riesen
B ran stand an Deck. Der Wind kam noch immer aus Norden. Jetzt spürte er jedoch, dass er langsam nach Osten drehte. Auch Vosnabar, der am Steuer stand, bemerkte das. Er rief seinen Männern zu, die Schot an Backbord zu lockern und dafür an Steuerbord zu straffen. Der Querbaum knackte hoch oben am Mast, und das Langschiff schoss über die nächste Welle.
Sieben Tage und sieben Nächte waren sie gesegelt. Bran hatte jeden Sonnenaufgang und jeden Sonnenuntergang gezählt und war jeden Morgen an den Bug getreten. Doch die Tage waren lang gewesen, wenngleich der Wind und das Meer das ihre dazu beigetragen hatten, die Schiffe nach Süden zu treiben. Erst jetzt konnte er die Spiegelungen der ersten Inseln vor dem Festland ausmachen. Hier, wusste er, sollte sich Vamans Langschiff von den anderen trennen und mit den Sklavinnen und den Verwundeten nach Tirga zurücksegeln.
Bran legte seine Faust auf die Reling. Erst an diesem Morgen, als Virga vom Mast nach unten kletterte und schrie, dass im Süden Land in Sicht sei, hatte er wieder an sie gedacht. Er vermisste sie und stellte sich vor, wie sie am Hafen stand und auf ihn wartete. Sie war keine Galuene mehr, sondern eine von seinem eigenen Volk, und die Frauen hatten ihr wollene Kleider, einen Leinenschal und einen warmen Umhang gegeben. Die Erinnerungen sangen ihm von den Inseln am Horizont zu, sie strahlten ihm von dem Land dort unten entgegen. Sie waren derart stark, dass er ihre Wärme zu spüren glaubte, und wenn er sich nur weit
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