Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
merkte nichts, denn er nahm Schlaftabletten und stopfte sich Wattepfropfen in die Ohren und trug überdies noch eine Augenbinde. Sie ging hinein und griff beherzt in die Wärme seines Bettes und schüttelte ihn, bis er erwachte. Er war zunächst geneigt, Tristãos Abwesenheit für einen kleinen Eheurlaub zu halten, dem eine verlegene Heimkehr im Morgengrauen und ein reinigendes Gewitter folgen würden, doch ihr Schluchzen und Jammern, das einer nicht zu beschwichtigenden bösen Vorahnung entsprang, veranlaßte ihn schließlich, die Polizei anzurufen.
    Die Polizisten in Rio sind überarbeitet und werden mit Geld bezahlt, das jeden Tag weniger wert ist. Wie die Polizisten überall auf der Welt hat sie der ständige Umgang mit der Korruption selbst korrumpiert. Die Unzahl der Armen erfüllt sie mit der Wut der Ohnmacht. In den favelas haben sie ihre Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, an die Drogenhändler abgetreten. Unsere Befähigung zur Sünde und zum Chaos, der Wegfall jeder religiösen Hemmung, überwältigt sie. Und trotzdem hob ein Polizist den Hörer ab und informierte sie, nach einer quälend langen Wartezeit, daß in den Protokollen dieser Nacht niemand zu finden sei, auf den Tristãos Beschreibung zutreffe. Auch er neigte dazu, den Fall eines auf Abwege geratenen Ehemannes auf die leichte Schulter zu nehmen, ließ sich jedoch endlich, nachdem er mehrfach und mit Nachdruck auf Onkel Donacianos hohe Stellung und weitreichende Beziehungen hingewiesen worden war, dazu herbei, einen Beamten zu ihnen zu schicken. Isabel konnte nicht so lange warten. Sie nahm sich gerade noch die Zeit, in ein Paar brauner Sandalen zu schlüpfen, und schon war sie, noch immer nackt unter dem Morgenmantel, mit der blinden Zielsicherheit eines Schlafwandlers unterwegs zur Copacabana, gefolgt von ihrem Onkel, der hastig in eine Anzughose und ein weißes Hemd ohne Krawatte geschlüpft war und keuchend mit ihr Schritt zu halten suchte und dabei etwas von Hoffnunghaben und Vernünftigsein stammelte.
    Doch in Isabel war eine steinerne, schreiende Leere, die genau wußte, wessen sie bedurfte. Sie mußte vorwärts stürmen, bis dieser schreckliche Mörser in ihrem Inneren seinen Stößel gefunden hatte.
    Der nächtliche Hochbetrieb in den Bars und Discos war am Verebben, die Türen spuckten Nachtschwärmer mit grauen Gesichtern und knappen Paillettenkleidern und ertaubten Ohren aus, in denen die genossenen Ekstasen widerhallten. Ein paar Taxis fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern, deren Licht zusehends matter und überflüssiger wirkte. Schon waren die ersten Jogger unterwegs, die ihre Muskeln mit Trainingsanzügen vor der Morgenkühle schützten. Die undeutlichen Wolken der Nacht hatten jetzt klare, blaue Gestalten – abgerundete Burgen, eine Reihe von Pferdeköpfen mit abgeschnittenen Schultern –, die über den Inselrücken und dem scharfen Schwertstreich des Horizonts an einem Himmel standen, der noch nicht rosig, sondern von fahlem Graubraun war.
    Ja, hier mußte er gegangen sein, in diesem Sand, in dem ihrer beider jugendliche Fußabdrücke unter Millionen anderen verschwunden waren, und hier hatte er seine Schuhe versteckt, hier unter den Zweigen eines Stranderbsenstrauchs, wo sie sie jetzt fand. Er war am welligen Saum der See entlanggegangen und hatte an den jungen Burschen gedacht, der er einst gewesen war, ehe sie ihm ein Wunder aufgebürdet hatte. In einiger Entfernung erkannte sie einen dunklen Fleck, wie ein Tangklumpen, der den bleichen Streifen aus Schaum und abschüssigem, durchtränktem Sandstrand unterbrach, in dem sich der heller werdende Himmel mit wechselndem Glanz, wie auf einer von regelmäßigen Atemzügen behauchten Glasscheibe, spiegelte. Sie blieb nicht stehen und sie begann nicht zu rennen, sondern sie streifte ihre Sandalen ab und ging mit Tristãos weit ausgreifenden, federnden Schritten, die sie genau in seine längst weggespülten Fußabdrücke zu setzen glaubte, auf die dunkle, tangähnliche Erscheinung zu.
    Er lag mit dem Gesicht nach unten, sein makelloses Gebiß zu einem kleinen, höflichen Grinsen entblößt, die Hand so kindlich unter das Kinn geschmiegt, wie er es beim Schlafen immer machte. Seine Augen, die halb offen und nach oben verdreht waren, so daß die Iris unter den Lidern verschwand, schimmerten wie die Muschelschalen, die auf den Strand gespült werden. Seine nackten Füße, die vom Wasser unermüdlich überspült und umstrudelt wurden, hatten ihre Zehen in den Sand gebohrt, und ihre

Weitere Kostenlose Bücher