Bratt, Berte - Lisbeth 01 - Meine Tochter Liz
und las. Die Mütze, die er in den Nacken geschoben hatte, war mit dem Namen eines bekannten Reisebüros in Goldbuchstaben geschmückt. Ohne auch nur einen Augenblick die Augen von dem Buch, das mit einem grauen Schutzumschlag versehen war, fortzunehmen, entnahm er von Zeit zu Zeit einem neben ihm liegenden Paket ein Stück Brot oder setzte eine Thermosflasche an den Mund.
Ich mochte ihn nicht gern in seiner Beschäftigung stören – aber was sollte ich machen?
„Hallo!“ rief ich.
Er sah mit einem zerstreuten und gleichsam in die Ferne gerichteten Blick von seinem Buch auf. Als er Lisbeth und mich entdeckte, legte er es aus der Hand. „Hallo!“ erwiderte er.
„Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie störe“, sagte ich. „Aber dieser Wagen hier streikt, und ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Würden Sie wohl so freundlich sein und einen Blick auf den Motor werfen?“
„Gewiß“, sagte der junge Mann. Er setzte seine Mütze ordentlich auf, schraubte die Thermosflasche zu und wickelte die Brote ein. Dann kam er zu uns herüber, hob die Motorhaube an und beugte sich über Carls feinen Motor.
Mehrere Minuten vergingen. Daß der junge Mann vom Reisebüro bei seiner Untersuchung systematisch vorging, soviel begriff sogar ich. Mit leichten, geübten Fingern tastete, fühlte, schraubte er. Ich mußte unwillkürlich an die Hände eines Zahnarztes oder Chirurgen denken.
Endlich richtete er sich auf. In der rechten Hand hielt er einen mir gänzlich fremden Bestandteil des Motoreingeweides.
„Da haben wir die Geschichte. Es liegt am Verteiler.“
„Am Verteiler?“ Ich begriff kein Wort.
„Er verteilt den Zündungsstrom auf die verschiedenen Zylinder“, erläuterte er.
„Kann er repariert werden?“
„O nein. Sie müssen einen neuen haben. Ihn einzusetzen ist eine Kleinigkeit. Man muß ihn nur erst haben.“
„Glauben Sie, man kann ihn hier in Drammen bekommen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Das ist leider gänzlich ausgeschlossen. Wenn es sich um einen gewöhnlichen Wagen – etwa um einen Chevrolet – handelte – dann vielleicht – Aber so – Und außerdem acht Zylinder! – Nein. Diesen Verteiler bekommen Sie nur in Oslo.“
„Ach, warum fahre ich auch nicht einen Chevrolet!“
„Ja, das hätte sich in diesem Augenblick für Sie gelohnt“, sagte er lächelnd.
Ich betrachtete ihn etwas genauer. Die Stimme, die Bewegungen, sein ganzes Benehmen: alles deutete darauf hin, daß er kein gewöhnlicher Chauffeur war.
Lisbeth hatte bisher ganz ruhig dagesessen und keinen Laut von sich gegeben. Jetzt zupfte sie mich zaghaft am Ärmel und sagte mit vor Angst ganz brüchiger Stimme: „Steffi! Ich muß nach Hause! Und bald! Vater weiß ja nicht, wo ich bin!“
„Sei nur ruhig, Lisbeth! Du kommst nach Hause. Habe keine Angst. Wir haben noch sehr viel Zeit. Ich muß nur erst wissen, was ich mit diesem dummen Auto anfange. Können wir deinen Vater nicht telefonisch erreichen?“
Lisbeth dachte nach.
„Nur der Hauswirt hat ein Telefon. Aber er ist so ekelhaft – – “
Ich glaube, wir sahen beide gleich ratlos aus. Die Lage, in der ich mich befand, war für mich neu und seltsam. Wäre ich allein gewesen, so hätte mir die Sache wenig ausgemacht. Aber für einen anderen Menschen die Verantwortung tragen – – für ein kleines Wesen mit großen erschrockenen Augen und brüchiger, angstvoller Stimme –
„Weißt du, wir könnten vielleicht doch dem Hauswirt Bescheid sagen, daß alles in Ordnung ist. Dann könnten wir hier übernachten und den Wagen morgen früh reparieren lassen und – “
„Hier übernachten?“ Lisbeths Stimme klang schon etwas weniger verzagt. Dachte sie an neue, aufregende Abenteuer, die ihr bevorstehen mochten?
„Ja, hier im Hotel. Wenn wir nur deinen Vater benachrichtigen können. Wir könnten natürlich mit dem Zuge nach Hause fahren; aber ich möchte ungern den Wagen hier zurücklassen.“ Der Chauffeur des Reisebüros stand noch immer neben der geöffneten Motorhaube.
„Ich fahre in einer halben Stunde nach Oslo. Wenn ich Ihnen nützlich sein kann…?“
„O ja!“ rief Lisbeth, bevor ich noch ein Wort hatte erwidern können. „Kannst du nicht Vater ausrichten, daß Steffi und ich hier sind und daß alles in Ordnung ist und daß er sich nicht zu ängstigen braucht?“
„Aber gewiß doch“, sagte der Chauffeur lachend. „Wenn du mir nur sagen wolltest, wie dein Vater heißt und wo er wohnt.“
„Er heißt Georg Jensen“, erklärte Lisbeth
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