Bratt, Berte - Lisbeth 01 - Meine Tochter Liz
wiederzusehen?
Mir schwindelte. Ob ich Lust hatte! Mein altes Reisefieber kam wieder über mich. Ich sollte neue Orte sehen, neue Menschen kennenlernen, ich sollte abends in großer Toilette ausgehen, mich in der Oper, auf Gesellschaften zeigen, wieder einmal fremde Sprachen sprechen – und ich wußte, daß ich mich an Carls Seite wohl sehen lassen konnte, daß er sich meiner nicht zu schämen brauchte.
Und das ganze Dasein, das er mit wenigen Worten vor mir erstehen ließ, stand in einem schreienden Gegensatz zu dem Dasein, das ich in diesem Augenblick führte:
Anstrengende Arbeit, große Verantwortung, Vorbereitung aufs Examen, Haushaltsorgen – und ein von Leben übersprudelndes kleines Wesen, das mich ganz und gar für sich in Anspruch nahm.
Es war schwer.
Carl blieb lange sitzen. Als er endlich fort war und ich ins Schlafzimmer ging, um mich hinzulegen, warf ich einen Blick auf Lisbeth.
Es sah so aus, als zögen sich über ihre Wangen ein paar Streifen.
Aber vielleicht waren es nur die Schatten von den Gitterstäbchen ihres Kinderbettes.
14
Lisbeth kam aus dem Badezimmer.
„Du mußt reine Strümpfe anziehen, Lisbeth.“
Sie holte Strümpfe aus der Kommodenschublade. Sie war gewandt und selbständig und konnte sich ohne Hilfe anziehen.
„Was war eigentlich gestern mit dir los, Lisbeth? Weshalb warst du so ungezogen?“
Keine Antwort.
„Antworte, wenn ich dich frage. Weshalb warst du so unhöflich gegen Herrn Lövold?“
„Er ist so dumm.“
„Pfui! Daß du so etwas sagen kannst! Er bringt dir ein hübsches Geschenk mit, ist nett und freundlich zu dir – “
„Es ist dumm“, wiederholte Lisbeth. Dann kniff sie die Lippen zusammen – ein richtiger kleiner Trotzkopf.
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
„Er ist doch immer so nett zu dir gewesen, Lisbeth – “ machte ich einen neuen Versuch.
„Das tut er nur, weil du denken sollst, er ist nett“, sagte Lisbeth. Damit sah sie offenbar den Gesprächsgegenstand als erschöpft an. Sie war fertig angezogen, nahm ihren Kamm, ging in die Küche und bat Erna, ihr bei dem Ordnen des Haares zu helfen.
Ich hörte, wie sie in der Küche ihr Frühstück bekam. Sie bat mich nicht, mit ihr zusammen zu frühstücken. Sie ging zur Schule, ohne sich von mir zu verabschieden.
Ich dachte über ihre letzte Bemerkung nach. Es war etwas daran, was mich stutzig machte, und ich hielt es nicht für geraten, das Gespräch fortzusetzen.
Ich frühstückte im Bett, als Lisbeth fortgegangen war, und sagte zu Erna, ich würde den ganzen Tag abwesend sein. Sie möchte Herrn Skar sagen, ich könne heute keine Stunde nehmen.
Ich streckte mich und gähnte und dachte über das Gespräch nach, das ich gestern mit Carl geführt hatte. Ich war schrecklich unsicher. Was sollte ich tun?
Da läutete es, und Erna brachte mir einen Brief. Ich las ihn viele Male:
Liebes Fräulein Sagen!
Sie werden verstehen, um was es sich handelt, wenn Sie sehen, wer an Sie schreibt. Der Gedanke an die kleine Lisbeth läßt mir keine Ruhe. Als Sie mich im Sommer von dem Tode meines Schwiegersohnes unterrichteten, schrieb ich, wie Sie sich erinnern werden, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich Lisbeths annehmen würden. Damals war ich gesundheitlich gar nicht auf dem Posten. Mein Ischias macht mir von Zeit zu Zeit böse zu schaffen.
Jetzt geht es mir indessen besser. Ich habe mit meiner Tochter oft über Lisbeth gesprochen, und wir sind uns einig geworden, daß wir sie gern zu uns nehmen wollen. Wir sind ja auch ihre nächsten Verwandten. Der Gedanke, daß Sie von uns eine sehr schlechte Meinung haben müssen, ist mir sehr schmerzlich. Sie müssen ja glauben, daß wir uns unseren Verpflichtungen entziehen wollen; das ist aber nicht unsere Absicht. Natürlich habe ich das Kind meiner lieben Elisabeth sehr lieb, und ich will gerne alles für sie tun, was ich kann.
Nun leben meine Tochter und ich, wie Sie wissen werden, in etwas engen Verhältnissen. Ich will nicht leugnen, daß es uns nicht leichtfällt, ein weiteres Familienmitglied in unseren Familienhaushalt aufzunehmen. Aber da Lisbeth ja etwas Geld besitzt, wird es schon gehen.
Was bei meinen Überlegungen jedoch die größte Rolle spielt, ist der Umstand, daß Sie, die Sie jung, den Tag über von Ihrer Arbeit voll in Anspruch genommen und doch nur sehr entfernt mit Lisbeth verwandt sind, nicht eine Verantwortung auf sich nehmen sollen, zu der Sie doch nichts verpflichtet. Meine Tochter will im nächsten Monat
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