Braut von Assisi
ihn ständig an, ihm seine Sünden zu vergeben.«
»Welche Sünden?«, rief Leo. »Ich kenne keinen heiligeren Mann als Franziskus von Assisi!«
Sebastianos Züge entspannten sich nicht.
»Der ständige Kampf hat ihn aufgefressen«, gab Stella laut wieder, was er ihr flüsternd eingab. »Ein inneres Feuer, das schließlich auch seine Gesundheit ruiniert hat. Sein Körper war vor der Zeit verbraucht, Magen und Darm rebellierten,
er war so gut wie blind. Und dennoch war er selbst dann nicht bereit, auch nur einen Fußbreit nachzugeben. Francesco bestand auf seiner eigenen Ordensregel, deren Kern ihm alles war: die unbedingte Liebe zur Armut.«
»Madre Chiara bewegt das gleiche Anliegen«, sagte Leo und Stella übersetzte. »Eine eigene Regel. Etwas, das keiner Frau vor ihr jemals zuteilwurde. Hast du sie eigentlich jemals kennengelernt, Sebastiano? Vielleicht damals, während der frühen Tage in Assisi?«
War das ein Nicken, zu dem der Alte ansetzte, oder doch eher ein Kopfschütteln? Da Leo sich nicht entscheiden konnte, sprach er einfach weiter.
»Siech und seit vielen Jahren ans Bett gefesselt, wartet sie in San Damiano auf den Tod. Eine Zustimmung aus Rom würde sie erlösen und in Frieden von dieser Welt scheiden lassen – doch bevor diese erteilt werden kann, müssen noch einige wichtige Punkte geklärt werden. Ich möchte Chiara in ihrem Kampf unterstützen, weil sie mich tief beeindruckt hat. Deshalb bin ich hier.«
Er schluckte, schien um die richtigen Worte zu ringen. Stella betrachtete ihn gebannt, und auch der Alte schien seinen Blick nicht von Leo lösen zu können, als er fortfuhr: »Fra Giorgio wurde heimtückisch vergiftet, aber auch Suor Magdalena, nach der ich dich gestern gefragt hatte, lebt nicht mehr. Sie starb nach einem Sturz aus großer Höhe. Noch halte ich keinerlei Beweise in Händen, die es belegen könnten, doch ich glaube nicht länger an einen Unfall oder an Selbstmord. Inzwischen bin ich mir nahezu sicher, dass jemand auch sie auf dem Gewissen hat.«
Sebastiano riss die Augen auf und begann erneut loszusprudeln, so hastig, dass Stella mit ihrer Übersetzung kaum noch folgen konnte: »Hier, in dieser einfachen Kapelle, hat
er seine Regel verfasst – unsere Regel, und schließlich hat der Heilige Vater in Rom ihr nach langem Zögern endlich zugestimmt. Somit war unser geliebtes Fonte Colombo zu einem zweiten Berg Sinai geworden.«
Mit keinem einzigen Wort war er auf Leos Ausführungen eingegangen. Beinahe, als hätte er sie gar nicht gehört. Für einen Moment war es, als wäre das τ , das die abgeblätterte Innenwand des Kirchleins schmückte, plötzlich auch von außen zu sehen. Sogar die Tauben, die gerade aufflogen, schienen von innen her zu leuchten.
Stella und Leo tauschten wieder einen raschen Blick. Beide hatten von Neuem ganz ähnlich empfunden. Und beide erschraken sie darüber.
»Er musste teuer dafür bezahlen.« Sebastiano sprach nun stockend, und nicht minder stockend übersetzte Stella. »Nicht wenige Brüder wandten sich von ihm ab …. Sie empfanden seine Forderungen nach absoluter Armut als zu radikal … verließen den Orden und behaupteten, er würde nur noch für sich und nicht mehr für sie reden …. Darunter hat er sehr gelitten. Es ging ihm sogar so schlecht, dass wir um sein Leben bangen mussten … bis er sich eines Tages in die heilige Grotte zurückzog. Im Schoß der Erde fand er zu seinem inneren Frieden zurück.«
Der Eremit versuchte aufzustehen, fiel dabei aber wieder zurück, sodass Leo ihm aufhalf.
»Er sollte sich schonen«, sagte Leo leise zu Stella, als Sebastiano ihnen voranhumpelte. »Sonst wird er den nächsten Winter kaum überstehen.«
»Das hab ich ihm auch schon geraten«, flüsterte sie zurück. »Aber er will nichts davon wissen. Er führt uns jetzt zur Grotte, Francescos Lieblingsplatz, wo der Heilige fastete und weinte, bis er schließlich die Stimme Jesu vernahm. Da wusste er, dass sein Weg richtig war.«
Sie näherten sich der Felswand, einem massigen Ungetüm aus schmutzig grauem Gestein, halb überhängend, das alles unter sich in tiefen Schatten tauchte. Für einen Moment glaubte Stella, Schritte zu hören, dann ein Knirschen, als zöge jemand etwas Schwereres über rauen Grund. Sie spähte nach oben, konnte aber nichts sehen.
Ein großes Tier vielleicht, dachte sie, während die Übelkeit vom Morgen sich verstärkte. Diese dichten Wälder hier müssen voll von Bären, Luchsen und Wölfen sein. Aber würden diese
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