Braut von Assisi
jemals wagen, so nah an uns heranzukommen?
Plötzlich blieb Sebastiano stehen und drehte sich um. »Attendete qui« , sagte er. »Ritonerò!«
Jetzt erst entdeckten die beiden den schmalen Spalt, der ins Felsinnere führte. Sebastian zwängte sich hindurch.
Dann hatte der Felsen ihn verschluckt.
»Was er darin wohl sucht?«, fragte Stella nach einer Weile, als das Schweigen zwischen ihr und Leo etwas Lastendes bekam.
»Vielleicht möchte er den Geist Francescos spüren.« Gedankenverloren massierte Leo sein linkes Bein. »Es mag seltsam in Euren Ohren klingen, aber bei meinen Besuchen in Portiuncula habe ich ganz Ähnliches empfunden. Ich wusste, dass der Heilige seit Jahrzehnten keinen Fuß mehr über diese Schwelle gesetzt haben konnte, und dennoch war ich ihm auf einmal ganz nah. Beinahe, als stünde er unmittelbar neben mir.«
»Er spielt die entscheidende Rolle in Eurem Leben«, sagte Stella. »Wenn Ihr von ihm redet, dann klingt es jedes Mal wie eine Liebeserklärung.«
»Ich wünschte, ich könnte ihn noch viel inniger lieben!«, rief Leo. »Aber meine Jugend war hart, besonders als nach
dem Tod meiner Schwestern die Burg auf einmal so grau und leer geworden war. Sooft mein Vater mich beim Weinen erwischt hat, hab ich eine Tracht Prügel riskiert. Und der konnte zuschlagen! Da habe ich mir beizeiten angewöhnt, Gefühle besser gar nicht erst zuzulassen.« Leo zog die Schultern hoch, als ob er fröre.
Unwillkürlich machte Stella einen Schritt auf ihn zu, dann blieb sie wieder stehen. »Er hat versprochen, uns etwas zu zeigen«, murmelte sie. »Aber das wird er ja wohl kaum ausgerechnet dort versteckt haben.«
»Warum eigentlich nicht …« Leo hielt inne. »Da ist er ja wieder!«
Sebastiano zwängte sich durch den Spalt und kam auf sie zu. In seiner Rechten hielt er etwas Helles, das er den beiden wie eine Trophäe entgegenreckte.
»Quello è …« Er verstummte und starrte verblüfft nach oben.
Lautes Knirschen, als ob die Füße eines Riesen hoch über ihnen unwillig gescharrt und dabei Grund losgetreten hätten. Im gleichen Augenblick kamen schon die ersten Steine herunter, unterschiedlich große Brocken, ein Regen aus Felsgestein.
Einer der gezackten Brocken traf Sebastiano an der Schläfe. Der Eremit taumelte, stürzte der Länge nach hin und blieb regungslos liegen.
»Padre!« Stella wollte zu ihm, doch bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, hatte Leo sie am Ärmel gepackt und festgehalten. Im nächsten Moment riss er sie zu Boden und warf sich dann mit seinem ganzen Körper auf die junge Frau. Stella hörte ihn schmerzlich stöhnen und schrie gellend auf, aber Leo drückte sie nur noch fester gegen den harten Grund.
Gerade noch rechtzeitig, denn nun verwandelte der lockere
Gesteinsregen über ihnen sich in dichten Hagel. Immer mehr Felsen prasselten herunter, unbarmherzige Geschosse, die Sebastianos Körper trafen und ein Stück bergab rissen, wo immer mehr Brocken auf ihn fielen, bis er vollständig von ihnen bedeckt war.
Die Stille, die irgendwann einsetzte, war entsetzlicher als all das Grollen und Poltern zuvor.
Leo wartete eine Weile, dann rollte er sich zur Seite.
»Bist du verletzt?«, hörte Stella ihn fragen. »Versuch, deine Arme und Beine zu bewegen! Aber vorsichtig!«
»Nein, nein!« Tränen liefen über ihre Wangen. »Es tut alles nur so weh. Als ob ein riesiger Wagen über mich gerollt wäre. Wenn du mich nicht beschützt hättest, dann wäre ich jetzt tot.«
»Und nun versuch, ob du aufstehen kannst!«
Sie gehorchte, sank aber wieder zusammen.
»Meine Beine!«, flüsterte sie. »Sie sind ganz kraftlos. Und sie hören nicht auf zu zittern.«
»Warte! Lass mich einmal nachsehen.«
Leo zögerte, dann begann er, Stellas Beine unter dem Kleid behutsam abzutasten, während sie ganz still hielt. Es war merkwürdig, seine Hände zu spüren, merkwürdig und aufregend zugleich.
»Das ist bloß der Schrecken«, sagte er dann. »Du hast dir nichts gebrochen. Du kannst stehen und gehen.«
»Aber wir hätten ebenso tot sein können – alle beide!« Sie begann hemmungslos zu weinen.
Wieder zögerte Leo, dann schien er sich einen innerlichen Ruck zu geben. Er ließ sich neben ihr nieder, schlang seine Arme um sie und wiegte sie wie ein verängstigtes Kind. Stella zitterte so stark, dass der Staub und die Luft um sie zu tanzen schienen. Irgendwann berührten seine Lippen ihr Haar, dann ihre Stirn.
Eine Warnung erklang in ihrem Herzen, doch sie schob sie
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