Braut von Assisi
wehenden Röcken lief sie hinaus.
»Am liebsten würde sie uns wohl auf der Stelle hinterherreiten«, sagte Stella zu Leo, als sie am Vormittag die Herberge zu Pferd verließen. »Als hätte ihr jemand eine Belohnung in Aussicht gestellt, wenn sie uns nur gründlich genug ausspioniert.«
Leo lächelte. »Habe ich Euch nicht prophezeit, dass die Leute reden werden? Aber wisst Ihr was, Signorina Stella? Es macht mir seltsamerweise gar nichts aus.«
Sie schwieg, hielt den Rücken ebenso kerzengerade wie gestern und versuchte, die widersprüchlichen Gefühle zu sortieren, die in ihr stritten. Sollte sie ihm erzählen, wie unbehaglich ihr zumute war?
Schließlich entschloss sie sich dagegen.
Leo schien zu spüren, dass sie eine Weile für sich sein wollte, und schwieg. Erst als eine Schafherde ihren Weg
kreuzte, sie zum Innehalten zwang, sodass sie eine Zeit lang dem Spiel des weichen Lichts auf den Pappelblättern zusehen konnten, brach er das Schweigen.
»Gelobt seiest Du, Herr, mit allen Wesen, die Du geschaffen hast, vor allem der edlen Herrin, der Schwester Sonne. Denn sie ist der Tag und spendet Licht uns durch sich. Sie ist schön und strahlend in großem Glanz. Dein Gleichnis ist sie, Erhabener …« Er hielt kurz inne, bevor er weiterfuhr. »Es wundert mich nicht, dass Franziskus in diesem Paradies auf Erden seinen Sonnengesang verfasst hat«, rief er. »Ich kenne kein Gebet, das die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung schöner und würdevoller preist.«
»Wir nennen es cantico delle creature «, sagte Stella. » Lied der Geschöpfe . Die Sonne ist im Italienischen männlich – und somit ein Bruder. Es gibt sogar eine schlichte kleine Melodie dazu. Meine Amme hat mir das Lied jeden Abend vor dem Einschlafen vorgesungen, so lange, bis ich Wort für Wort auswendig wusste. Damals musste ich oft weinen, so tief haben mich Francescos Zeilen berührt.«
»Wenn ich doch nur mehr von Eurer wunderbaren Sprache verstünde! Meine Mutter hat sie gesprochen, als wir Kinder waren. Doch mein Vater wurde immer schnell zornig, weil er sich dann ausgeschlossen fühlte, was er gar nicht mochte. Deshalb hat sie es immer seltener getan und irgendwann leider ganz damit aufgehört.«
»Ihr habt Eure Eltern geliebt?«, fragte Stella leise. Sie hatte sich nach einem herabgefallenen Zweig gebückt und fuhr mit ihm über die raue Baumrinde.
»Tut man das nicht immer?«
»Ich weiß ja nicht einmal, wer meine Eltern sind. Simonetta und Vasco Lucarelli sind es gewiss nicht, das habe ich schon zu spüren bekommen, als ich gerade über die Tischkante schauen konnte. Bereits damals gab es diese Sehnsucht
in mir: zu wissen, woher ich komme und wohin ich gehöre.«
»Der Älteste für die Burg, der Zweite für die Kirche«, sagte Leo. »Viel mehr gab es dazu bei uns zu Hause nicht zu sagen.«
»Dann seid Ihr gar nicht freiwillig ins Kloster eingetreten, padre ?«
»Wir können weiter«, sagte er, ohne sie anzusehen, und ihr fiel auf, dass er sein linkes Bein beim Gehen noch immer schonte. »Ich helfe Euch in den Sattel. Der Weg ist wieder frei.«
Der Ritt durch den Wald war erfrischend und bis auf vereinzelte Tierlaute still. Allmählich ebbte Stellas Übelkeit ab, doch sie verschwand nicht ganz, als ob sie weiterhin hinter einem dichten Vorhang lauerte.
»Buongiorno, buona gente!« , rief ihnen Sebastiano entgegen, als sie ihn schließlich bei der Quelle entdeckten, in der er gerade seine nackten Unterarme kühlte. Dann bekam sein Gesichtsausdruck etwas leicht Verquältes. »Come mi hanno punto le zanzare, stanotte!«
»Die Mücken haben …«, wollte Stella übersetzen.
»… ihm in der letzten Nacht offenbar schwer zugesetzt«, vervollständigte Leo den Satz. »Was nicht zu übersehen ist. Scheinbar zieht sein Blut sie nicht minder an wie Eures.«
Er stieg ab und half Stella aus dem Sattel.
»Wollt Ihr ihm nicht Eure Behandlung mit dem Essig verraten?«, fragte er. »Damals bei den Carceri hat sie Euch doch sehr geholfen.«
Stella begann, halblaut auf den Eremiten einzureden, doch Sebastiano schüttelte den Kopf und schob die Ärmel seiner Kutte resolut wieder nach unten.
»Das vergeht wieder, sagt er«, dolmetschte Stella. »Viel ärger sind die Rückenschmerzen, die ihn seit den letzten
kalten Wintern plagen. Wenn hier oben alles mit Schnee bedeckt ist, kann er sich manchmal kaum noch rühren, denn Stein und Felsen wärmen nun einmal nicht besonders. Wir sollen ihn zur Kapelle begleiten. Dort will er uns etwas
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