Braut von Assisi
wiedersehen?
»Du solltest jetzt gehen.« Der Eremit stand auf einmal dicht neben ihr. Konnte er in ihr Innerstes sehen? Stella war plötzlich ganz durcheinander.
»Darf ich wieder hierherkommen?«, fragte sie, als sie sich erhoben hatte und ihm nach draußen folgte.
»Warum nicht?«, lautete seine Antwort. »Ein Ort für alle, die reinen Herzens sind. So und nicht anders hat der poverello es gewollt.«
Die alten Mönche schnarchten zum Gotterbarmen, aber auch unter den jüngeren gab es viele, die im Schlaf stöhnten, röchelten oder seufzten, als steckten ihre Hände unter
und nicht über der dünnen Decke, wie es für fromme Brüder vorgeschrieben war.
Leo hatte das Gefühl, so gut wie gar nicht geschlafen zu haben. Todmüde und doch hellwach war er beinahe erleichtert, als endlich die Glocke ertönte und die Brüder zur Laudes rief. Zusammen mit den anderen ging er hinüber in die Kirche, um die Psalmen, Gebete und Hymnen anzustimmen.
Danach begrüßte Johannes von Parma ihn. »Beeil dich!«, sagte er. »Der Heilige Vater erwartet uns.«
»Jetzt?« Leo griff sich unwillkürlich an den Kopf. Seine Tonsur ließ vermutlich schon wieder zu wünschen übrig, sein Körper war seit dem Bad in den Sabiner Bergen kaum mehr mit Wasser in Berührung gekommen, und seine Kutte …
Johannes lachte. »Er ist an den Anblick von uns Minderbrüdern gewohnt«, sagte er. »Glaub mir das! Papst Innozenz liegen ganz andere Dinge am Herzen. Und jetzt komm! Er hasst es, wenn man ihn warten lässt.«
Trotz seiner kurzen Beine eilte er so schnell voraus, dass Leo sich anstrengen musste, Schritt mit ihm zu halten. Die Straßen Roms begannen sich erst zögernd mit Menschen zu füllen, und doch stank es bereits bestialisch, weil überall Abfall und Unrat herumlagen, denen sie ausweichen mussten.
»Diese Stadt ist wie eine Hure«, sagte Johannes, als sie an halb vermodertem Gekröse vorbeikamen, das mit Fliegenschwärmen bedeckt war. »Auf den ersten Blick anziehend und prächtig – doch wenn sie den Rock hebt, stinkend und abscheulich.«
»Wieso machen die Leute nicht einfach sauber?«, fragte Leo.
»Es sind zu viele, die auf engstem Raum leben, und jeden
Tag kommt neuer Abfall dazu. Wozu sich also anstrengen? In den Sommermonaten ist es immer am schlimmsten. Erst wenn die Herbstregen einsetzen, tritt leichte Besserung ein.« Er deutete nach links. »Siehst du das eingefallene Bauwerk da?«
»Ja«, sagte Leo. »Was ist das? Es ist so riesengroß.«
»Das Kolosseum, einst ein Circus, in dem auch Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe abgehalten wurden. Hier hat man die ersten Christen zur Unterhaltung der Römer wilden Tieren vorgeworfen. Hier sind die ersten Märtyrer für ihren Glauben gestorben.«
Schweigend gingen sie weiter, während die Morgensonne von einem blanken Himmel auf sie herabstach. Plötzlich blieb Johannes stehen.
»Ich hoffe, du verstehst mich jetzt nicht falsch«, sagte er. »Aber hüte dich vor der Freundlichkeit Seiner Heiligkeit!«
»Was soll das heißen?«
»Niemals zuvor ist mir ein Mann begegnet, der zwei so verschiedene Gesichter haben kann: im einen Moment gebildet, zuvorkommend und liebenswert, im nächsten jedoch voller Härte und Grausamkeit. Er hat Kaiser Friedrich das Leben zur Hölle gemacht, die Folter bei der Inquisition eingeführt und festgelegt, dass alle Ketzer verbrannt werden sollen. Sein Kern ist hart wie Diamant. Nichts und niemand kann ihn rühren.«
»Du sprichst vom Stellvertreter Christi auf Erden!«, rief Leo. »Doch wenn man dich so reden hört, könnte man meinen …«
»Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist, das ist alles. Aufrichtig, aber immer auf der Hut. Ich werde dein Übersetzer sein. Damit kann ich manchem die Spitze nehmen, falls es nötig sein sollte. Doch vergiss niemals: Dieser Mann ist ein Wolf!«
Der Lateranpalast, vor dem sie inzwischen angekommen waren, glich einem Labyrinth, doch Johannes von Parma wusste offenbar genau, wohin er Leo führen musste: nicht durch eines der mächtigen Portale, vor denen Bewaffnete standen, sondern zur Pforte des angrenzenden Klosters.
Ein dürrer Mönch ließ sie eintreten, und als sie nach ein paar Biegungen den Kreuzgang erreicht hatten, entschlüpfte Leo ein Laut des Entzückens. Einer der schönsten und friedlichsten Orte, die sein Fuß jemals betreten hatte! Schattige Arkadengänge mit reich ornamentierten, teils glatten, teils in sich gedrehten Säulen aus rötlichem Sandstein. In der Mitte ein Brunnenbecken, das von
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