Braut von Assisi
zuvor gesehen, aber auf ihr sind alle vier Einsiedeleien von Rieti aufgeführt«, übersetzte sie.
»Das wissen wir bereits. Aber warum, Stella? Der Grund ist wichtig. Bitte lass nicht locker! Bruder Giorgio musste dafür sein Leben lassen.«
Lorenzos linkes Lid begann nervös zu flattern. Erst als Stella ihn flehend ansah, begann er leise zu reden.
»Wir haben einen Eid geschworen, wir vier Brüder des heiligen Tals, in dem Francesco um die Vergebung seiner Sünden gefleht hat. Nein, eigentlich waren wir zu fünft, denn ich bin erst später in die Fußstapfen dessen getreten, der vor mir Poggio Bustone gehütet hat. Ein weiser alter Mann, Bruder Luca, frömmer und demütiger als wir alle zusammen. Bevor er starb, hat er mir seinen Eid als Vermächtnis hinterlassen, mir, dem Sünder, der gegen die Gelübde verstoßen hatte!«
»Das reicht mir nicht. Was habt ihr geschworen, Lorenzo? «, drängte Leo. »Die anderen drei sind bereits tot, auf grausame Weise gestorben unter Stein, am Kreuz, im Feuer. Rede endlich – es geht um dein Leben!«
Während die Dämmerung immer weiter fortschritt, suchten Lorenzos Blicke nur Stella.
»Er bittet uns in seine Hütte«, übersetzte sie schließlich.
»Aber die Zeit wird zu knapp!«, rief Leo. »Wird er uns dort endlich Rede und Antwort stehen? Und was hat er mit den Sünden Francescos gemeint?«
Padre Lorenzo war hinüber zu Fidelis gegangen und begann, ihren Hals zu streicheln, was sie zu genießen schien, denn sie antwortete ihm mit leisem Schnauben. Danach rief er Stella und Leo etwas zu.
»Er sagt, auch das Pferd sei eine Kreatur Gottes, die dringend Ruhe brauche«, sagte Stella. »Ebenso wie unsere aufgewühlten Herzen. Sobald sie eingekehrt ist, sei er bereit, alles zu erzählen.«
Im Schein der Ölfunzel war der kleine Raum voller Schatten. Niemals hatte Leo gedacht, dass er angesichts der drohenden Gefahr irgendetwas hinunterbringen könnte, doch als Lorenzo ihnen weißen Käse, Brot und eine Art Eintopf auftischte, spürte er erst, wie hungrig er war, und aß.
Stella dagegen hatte nur ein paar Bissen genommen. Die Arme um die Knie geschlungen, hockte sie auf der Bank, starrte ständig zu Lorenzo und sah aus wie ein schutzbedürftiges Kind. Aber passte das nicht ausgezeichnet – jetzt, wo sie endlich ihren Vater gefunden hatte?
Lorenzo schien es ähnlich zu ergehen. Kaum ein Schritt, den er in der niedrigen Hütte tat, ohne Blickkontakt mit ihr zu suchen. Sobald er zu reden begann, fuhren seine Hände durch die Luft und arbeiteten dort, als hätten sie lieber die wiedergefundene Tochter umarmt und gekost. Doch er war zu scheu, um es wirklich zu wagen. Noch immer hatte er nicht preisgegeben, worin der Eid bestand, hielt sich zurück, als hindere ihn eine unsichtbare Macht daran, etwas zu verraten.
»Du musst reden, Bruder!«, sagte Leo bestimmt zum dutzendsten Mal. »Überwinde dich! Ohne deine Hilfe kommen wir nicht weiter.«
Lorenzo antwortete ruhig.
»Er hat keine Angst vor Menschen, die nach seinem Leben trachten«, übersetzte Stella. »Seit er mich gesehen hat, fürchtet er den Tod nicht mehr. Jetzt ist er gerne bereit, zu jeder Zeit vor seinen Schöpfer zu treten.«
»Willst du das Kostbarste gleich wieder verlieren, das du gerade erst gefunden hast?«, wandte Leo ein. »Stella braucht dich, Lorenzo! Ihr ganzes Leben hat sie sich vergeblich nach ihren unbekannten Eltern gesehnt. Ihre Mutter kann sie nicht mehr kennenlernen. Dich dagegen sehr wohl.«
»Niemand wird uns jemals mehr trennen«, übersetzte Stella, die bei Lorenzos Worten abermals feuchte Augen bekommen hatte. »Stella lebt für immer in meinem Herzen, so wie ich nun auch in ihrem. Auch wenn wir räumlich voneinander entfernt sind, werden wir einander stets nah sein.«
Erregt war Leo aufgesprungen. Lorenzo war ganz offenbar nicht minder dickköpfig als seine Tochter, das hätte er rechtzeitig berücksichtigen sollen.
»Was aber, wenn dieses Geheimnis noch weitere Menschenleben kostet?«, fragte Leo heftig. »Wer auch immer in Gefahr sein mag, dieses sinnlose Sterben muss aufhören – und wir haben keine Zeit zu verlieren!« Sein Tonfall wurde noch eindringlicher. »Rede, Lorenzo, rede, um deiner wiedergefundenen Tochter willen!«
Bevor Lorenzo antworten konnte, hörte Leo draußen Fidelis wiehern. Er hatte sie abgerieben, gefüttert und getränkt. Es gab also keinen Grund, weshalb sie so unruhig sein sollte – oder doch? Er stand auf und wollte zur Tür, doch Lorenzo hielt ihn
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