Braut von Assisi
Schande und verletzter Ehre. Aber ich hatte die ganze Zeit solche Angst, dass du mit dem Padre irgendwelchen Unsinn anstellst.«
Stella schaute ihr gelassen in die Augen. »Und wenn dem so wäre?«, sagte sie.
»Soll das heißen, ihr beide habt tatsächlich Unsinn angestellt? « Ilarias Augen wurden noch größer. »Ich wusste es, Stella. Da war so etwas in deinem Blick, wenn du mit ihm in einem Raum warst, etwas, das ich zuvor noch nie an dir gesehen hatte. Was genau ist geschehen? Ich muss alles wissen!«
Stella öffnete den Mund, um zu antworten – und schloss ihn wieder. Wo sollte sie beginnen?
Die vergangenen Tage und Wochen waren Traum und Albtraum zugleich gewesen. Hier, in der heimeligen Atmosphäre dieses noblen Hauses, erschienen ihr die kargen Einsiedeleien des heiligen Tals so fern, als gehörten sie in eine andere Welt. Und doch war sie erst vor Kurzem dort gewesen und hatte Dinge erlebt, die sie sich zuvor niemals hätte vorstellen können. Ihre Ängste, all die Aufregungen und Entbehrungen und die Enthüllungen, die sie bislang kaum verdaut hatte – wie sollte sie das Ilaria begreiflich machen, die schon unmutig wurde, wenn sie bei heißem Wetter in den falschen Schuhen ein Stück bergauf laufen sollte?
»Du wirst alles zu hören bekommen«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber lass mir noch ein wenig Zeit!
Ich habe Schönes erlebt, aber auch Schreckliches durchgemacht. Darauf solltest du dich jetzt schon einstellen.«
»Du bist mir doch böse!« Wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie etwas unbedingt durchsetzen wollte, schob Ilaria die Unterlippe vor und sah Stella schmollend an. »Deshalb willst du alles für dich behalten.«
»Nein, bin ich nicht. Ich trage dir nichts nach, obwohl es nicht schön war, im alten Ammenzimmer eingesperrt zu sein. Ich weiß, du wolltest nur mein Bestes, aber ich musste doch selbst herausfinden, was das Beste für mich war.«
»Was wirst du jetzt tun? Zurück zu den Eltern …«
»Niemals!« Stellas Stimme klang plötzlich hart. »Simonetta und Vasco haben mich aufgezogen, und dafür bin ich ihnen dankbar, aber Eltern waren sie mir niemals. Wie habe ich mich danach gesehnt, endlich zu erfahren, woher ich stamme und wer ich wirklich bin! Inzwischen bin ich ein Stück schlauer geworden.«
»Was soll das heißen?«
»Einen Teil meiner Herkunft konnte ich aufdecken. Ich weiß jetzt, wer mein leiblicher Vater war.«
»Das hast du herausgefunden?« Sichtlich beeindruckt trat Ilaria einen Schritt zurück. »Wer war es?«
»Lorenzo. Ein Einsiedler. Ein ganz besonderer Mann. Leider ist er nicht mehr am Leben.« Sie klang plötzlich leicht zittrig.
»Ein toter Mönch?« Ilarias Erstaunen schien keine Grenzen zu kennen. »Und deine Mutter? Weißt du das auch?«
Ein plötzliches Gefühl verschloss Stella den Mund.
»In diesem Punkt sind noch einige Fragen offen«, sagte sie nach längerer Pause. »Ich werde versuchen, sie nach und nach zu klären. Deshalb muss ich auch so schnell wie möglich nach San Damiano.«
»Willst du jetzt doch ins Kloster, um dich Mammas Wünschen zu fügen?«
»Keineswegs! Ich gehe dorthin, weil ich etwas wissen möchte, nicht als zukünftige Novizin.«
»Aber die frommen Schwestern von San Damiano leben doch in strengster Klausur! Das weiß jedes Kind in Assisi. Wie willst du es anfangen hineinzugelangen?«
»Das überlass ruhig mir! Und sei unbesorgt, Ilaria: Ich komme gerne hierher zurück. Wenn du mich wirklich beherbergen willst.«
»Und ob ich das will! Es ist mir ganz egal, wer deine leibliche Mutter war – für mich wirst du immer meine geliebte Schwester bleiben. Außerdem gibt es hier noch jemanden, der sich bestimmt sehr darüber freuen wird. Warte!«
Ilaria verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Eine Weile blieb alles still, dann hörte Stella Schritte, die rasch näher kamen.
Die Tür sprang auf. Anstatt Ilaria stand eine kleine Frau auf der Schwelle, mit lichtbraunen Haaren und einem freundlichen Gesicht, auf dem sich jetzt ein breites Lächeln zeigte.
»Marta!« Im ersten Augenblick glaubte Stella zu träumen und schüttelte verwundert den Kopf, weil sie kaum glauben konnte, was sie da sah. Dann jedoch begann sie loszulaufen, schlang ihre Arme um die lang Vermisste und drückte Marta inniglich an sich. »Dass ich dich endlich wiederhabe!«
Abermals an die Pforten des Sacro Convento zu klopfen, bereitete Leo mehr als gemischte Gefühle. Hatten die frommen Brüder nicht
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