Braut von Assisi
Waschschüssel und trocknete sie ab, während Stella an der Tür zu warten schien.
»Die Eltern«, sagte Leo, bevor er sich ihr zuwandte, »sie sollen von dem Pfeil nichts erfahren, habe ich recht?«
Die junge Frau nickte. »Sie würden sich sonst nur Sorgen machen«, sagte sie. »Und dazu gibt es doch eigentlich keinerlei Grund.«
»Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Leo eindringlich.
Plötzlich konnte sie seinem Blick nicht länger standhalten.
»Seinem Schicksal kann man nicht entfliehen«, sagte sie leise. »Trotz aller Vorsicht. Ihr habt den Pfeil von mir abgewehrt. Doch wer weiß schon, wann und wo der nächste auf mich wartet?« Sie warf ihr dunkles Haar zurück. »Wir sollten die anderen nicht zu lange warten lassen! Sonst wird noch das ganze Essen kalt.«
Leo folgte ihr durch den Gang in ein großes Zimmer, das von zahlreichen Kerzen erleuchtet war.
Vasco Lucarelli nickte ihm freundlich zu, und Ilaria strahlte ihn regelrecht an, während Simonetta eher säuerlich den Mund verzog. Zwei adrett gekleidete Mägde erschienen und bedienten die Essenden, doch trotz der aufwendig zubereiteten Speisen blieb die Unterhaltung merkwürdig steif. Stella gab sich alle Mühe, die Stimmung aufzuheitern, übersetzte geschwind und genau, lachte und
machte kleine Späße, während Ilaria eher zurückhaltend blieb und die Hausherrin den Mund so gut wie gar nicht aufbekam.
Als sie schließlich den Kapaun im Teigmantel verspeist hatten, und auch von der torta, die mit Schinken, gekochten Eiern, Datteln und Safran verfeinert war, so gut wie nichts mehr übrig blieb, wandte Vasco sich an den Gast.
»Ihr sagtet mir gestern, padre , Ihr hättet in San Damiano zu tun. Was genau führt Euch in dieses Kloster?«
Stella übersetzte die Frage prompt, Leo aber ließ sich gründlich Zeit mit seiner Antwort.
»Darüber kann ich Euch leider keine Auskunft erteilen«, sagte er schließlich. »Das sind Angelegenheiten, die allein unseren Orden betreffen.«
Vasco wiegte nachdenklich den Kopf.
»Dann verratet mir wenigstens, ob sie noch am Leben ist«, verlangte er. »Denn immer wieder kommen in Assisi Gerüchte auf, Madre Chiara sei längst tot. Niemand hat sie seit vielen Jahren von Angesicht zu Angesicht gesehen.«
»Sie lebt, seid ganz gewiss«, versicherte Leo. »Ich habe heute erst mit ihr gesprochen. Ihr kennt sie persönlich?«
»Nicht direkt.« Vasco schien innerlich plötzlich zurückzuweichen. »Doch man hört so vieles über sie. Seit dem Tod Francescos ist sie das Licht von Assisi.«
»Madre Chiara ist mit Sicherheit eine bemerkenswerte Frau«, sagte Leo. »Eine Frau mit vielerlei Talenten, einem starken Glauben und einem ebenso starken Willen.« Er verstummte, weil er an Suor Magdalena denken musste. War sie zu eigenmächtig gewesen? Hatte sie möglicherweise etwas getan, das der gestrengen Äbtissin missfallen hatte? Regula hatte ihm versichert, wie fromm und gehorsam die Mitschwester gewesen sei – doch konnte das nicht auch eine Lüge sein?
»Wer oder was sind die carceri ?«, fragte er in das seltsame Schweigen hinein, das sich plötzlich über die Tischgemeinschaft gesenkt hatte.
»Un posto maledetto!« , rief Simonetta impulsiv.
»Il paradiso« , kam es von Ilaria, die plötzlich noch glänzendere Augen bekommen hatte.
Ein verfluchter Ort – das Paradies. Dieses Mal brauchte Leo nicht einmal Stellas Hilfe, um zu verstehen. Doch was hatte das zu bedeuten? Gegensätzlicher konnten zwei Aussagen ja nicht sein!
»Eremo delle Carceri, meint Ihr das?«, schaltete sich nun Vasco schlichtend ein, während Stella jedes seiner Worte für den Gast übersetzte. »Es handelt sich um eine Einsiedelei, oben auf dem Monte Subasio, von Assisi aus ein Weg von knapp zwei Stunden. Einst gehörte dieser Ort den Benediktinern. Später schenkten sie ihn Francesco und seinen ersten Jüngern. Der Heilige hat viele Monate in dieser Bergeinsamkeit verbracht. Doch seit seinem Tod soll alles öde und verlassen sein.«
»Dann lebt jetzt niemand mehr dort?«, fragte Leo und spürte, wie seine innere Anspannung wuchs. Sein Nacken begann zu jucken, als wäre er in einen Ameisenhaufen geraten. Er musste sich zusammennehmen, um sich nicht auf der Stelle zu kratzen.
»Das weiß niemand so genau«, räumte Vasco ein. »Früher sind die Menschen aus unserer Stadt gern zum Beten hinaufgegangen. Doch in letzter Zeit hat man immer wieder von Überfällen auf fromme Pilger gehört. Das schreckt ab – und dann beginnen die Leute eben zu reden.«
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