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Braut von Assisi

Braut von Assisi

Titel: Braut von Assisi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Leo den Toten näher inspiziert. Giorgios Extremitäten waren grau, das Blut dunkel und dickflüssig, und er hatte an einigen Stellen unter der Haut geblutet.
    Der Infirmar hatte sich kurz an seinem mächtigen Schädel gekratzt, dann war er zu seinem Regal geschlurft, um eine kleine Glasphiole zu holen, die mit getrockneten, dunklen Blüten gefüllt war.
    »Aconito«, sagte er. »Attenzione, fratello, è molto tossico!«
    Dieses Mal brauchte Leo keinen Übersetzer. Die Blüten des Blauen Eisenhuts waren ihm schon seit früher Jugend bekannt. Immer wieder hatte seine Mutter die Kinder vor ihrer Giftigkeit gewarnt, denn die Pflanze gedieh auf den feuchten Wiesen um die heimatliche Burg besonders üppig. Emma, die jüngere seiner Schwestern, besaß trotzdem einmal den Übermut, ein paar der Blüten abzureißen und sie in ihrer Schürze mit nach Hause zu bringen, wonach sie auf der Stelle in den Badezuber gesteckt und von Kopf bis Fuß abgeschrubbt wurde, um jede Gefahr abzuwaschen.
    Und dann hatte es auch noch jenen tragischen Fall des liebeskranken Novizen gegeben, den die Leidenschaft für
eine schöne Apothekertochter zur Verzweiflungstat trieb. Leo selbst war der Anblick erspart geblieben, da er gerade fern vom Ulmer Kloster auf Reisen gewesen war. Die Berichte der Brüder jedoch, die den Vergifteten nicht mehr hatten retten können, erschütterten ihn lange und tief. Vor dem Atemstillstand, der in diesem speziellen Fall fast schon als Erlösung gelten konnte, hatten Blindheit, Taubheit und Lähmung eingesetzt, die bei klarem Bewusstsein erlebt wurden.
    Ähnliches musste auch Giorgio durchlitten haben.
    Das Gift war im Kuchen gewesen, so viel war Leo inzwischen klar. Eisenhut schmeckt selbst in winzigen Dosen gallenbitter, sein Geschmack ließ sich allenfalls mit einer gehörigen Zugabe von Zucker oder Honig verbergen. Jemand hatte sich Giorgios Gier nach Süßem zunutze gemacht. Jemand, der den Alten und seine Vorlieben gut gekannt haben musste. Jemand, der ihn so sehr gehasst hatte, dass er ihn für immer zum Schweigen brachte.
    »Forse ha durato un’ora« , dröhnte der Infirmar weiter. »Una morte molto lunga e dolorosa.« Er presste die Hände auf seinen Bauch und verzog dabei das Gesicht so gequält, dass Leo ihn wiederum verstand.
    Ein langes, qualvolles Sterben, das der alte Eremit durchstehen musste, bis der Tod ihn endlich erlöst hatte. Welcher Teufel mochte ihm das angetan haben – und aus welchem Grund?
    Natürlich war Leo die Idee gekommen, dass der Mord mit ihm und seinen Besuchen auf dem Monte Subasio zu tun haben könnte. Und als gewissenhafter Visitator hatte er auch diese Möglichkeit eingehend geprüft. Aber hielt der Verdacht auch wirklich stand?
    Die Landkarte war alles andere als zufällig platziert gewesen, ebenso wenig wie damals das andere Teilstück in
der Essensschale. Doch wie hatte der Mörder wissen können, dass ausgerechnet er beides finden würde?
    Niemand war ihm beim Aufstieg begegnet, weder die beiden Male zusammen mit Stella noch als er Giorgio ohne sie aufgesucht hatte. Er selbst hatte seine Pläne keiner Menschenseele anvertraut und Stella ebenso wenig, das hatte sie ihm während des Abstiegs unter Tränen versichert, mit Ausnahme von Ilaria, die als Täterin nicht infrage kam.
    Er schob die beunruhigenden Gedanken an Stella zur Seite – und doch überfielen sie ihn schon im nächsten Augenblick umso drängender. Seit Tagen schien die junge Frau verschwunden; nicht ein einziges Mal hatte er sie mehr im Haus der Lucarellis zu Gesicht bekommen. Selbst die sonst so redselige Ilaria verstummte plötzlich in seiner Gegenwart, hielt den Blick gesenkt und huschte davon, bevor er sie ansprechen konnte. Die Eltern wollte er nicht nach Stella fragen, um zusätzlichen Unfrieden zu vermeiden. Simonetta und Vasco gaben sich alle Mühe, so zu tun, als wäre nichts geschehen, doch an ihren unglücklichen Blicken und der verkrampften Körperhaltung erkannte Leo, dass dies reine Fassade war.
    Ob Stella doch den Mut besessen hatte, ihnen von Carlos Überfall im Stall zu erzählen? Oder trug sie die schreckliche Erinnerung noch immer ganz allein mit sich herum?
    Seelische Wunden, über die man redet, heilen schneller und besser, das hatte eigene Erfahrung ihn gelehrt. Und doch erscheint manches, was man erlebt, zu schrecklich, um es in Gegenwart anderer auszusprechen. Auch in Leos Brust schlummerte solch ein dunkles Geheimnis, das ihn von innen her auffraß, aber bislang hatte er weder den

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