Braut von Assisi
unweigerlich Stella in den Sinn, und für einen Moment war es, als ginge sie wieder friedlich neben ihm her, doch er zwang sich, sich von dieser Vorstellung zu lösen. Er durfte nicht zurückschauen, wenn er bei seinen Untersuchungen vorankommen wollte, sondern musste sich ganz und gar auf das Neue einlassen, das vor ihm lag. Franziskus und seine ersten Gefährten hatte es an einsame Orte gezogen – und die wichtigsten, die ihm womöglich Aufschluss für all die drängenden Fragen bringen sollten, die ihn quälten, schienen auf jener Blutkarte verzeichnet zu sein, die ihn ab jetzt führen und leiten sollte.
Das heilige Tal von Rieti sollte ihm Gewissheit bringen. So jedenfalls lautete Leos Hoffnung, die er sich in bangen Nachtstunden abgerungen hatte.
Der Bach am Wegrand, den er schließlich erreichte,
führte deutlich weniger Wasser als bei seinen bisherigen Aufstiegen, und plötzlich überfiel ihn erneut ein Anflug von Sorge. War er nicht gerade dabei, immer tiefer in ein Land einzudringen, von dem er so gut wie nichts wusste?
Abermals musste Leo den Realitätssinn des Ordensgründers bewundern, der von Anfang an darauf bestanden hatte, dass Brüder stets zu zweit unterwegs sein sollten, damit einer sich um den anderen kümmern konnte. Andreas – auf einmal wollte der Name des Gefährten, mit dem er ursprünglich von Ulm aus aufgebrochen war, ihn nicht mehr loslassen. Leo sprach ein stilles Gebet und versuchte danach mit aller Macht, an etwas anderes zu denken.
Die Carceri, an denen er mit einem innerlichen Segensgruß an den toten Fra Giorgio vorbeizog, brachten ihn auf andere Gedanken, wenngleich bei ihrem Anblick noch einmal all die unterschiedlichen Gefühle und Befürchtungen der vergangenen Tage in ihm hochstiegen. Ich finde deinen Mörder, dachte er und zeichnete sich inbrünstig das Kreuz auf die Brust. Das gelobe ich dir, bei allem, was mir heilig ist. Du sollst nicht umsonst gestorben sein, lieber alter Bruder!
Ab nun war es nur noch ein kurzes Stück bergauf, bevor er den kahlen Gipfel erreichte und der Abstieg begann. Allerdings hatte Leo sich dabei ordentlich verschätzt. Der Pfad war schmal und steinig, von Regenfällen ausgewaschen, gänzlich unbefestigt. Seine ausgetretenen Sandalen boten keinerlei Halt. Wie ein Kind, das das Laufen erst mühsam erlernen muss, rutschte er hin und her, immer wieder wild mit den Armen rudernd, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, der Länge nach hinzuschlagen oder sogar abzustürzen.
Wie mochte erst Franziskus solch unwirtliche Wege bewältigt haben – zudem zumeist barfuß, wie die Legenden
berichteten, und die meiste Zeit seines Lebens von allen möglichen Krankheiten geschwächt? Leos Hochachtung vor dem Heiligen wuchs mit jeder Meile, die er schwitzend und keuchend zurücklegte.
Inzwischen spürte er jeden einzelnen Muskel, die Knie hatten zu schmerzen begonnen, und seine Waden waren vor Anstrengung steinhart geworden. Der Durst war so immens, dass vor Leo urplötzlich das verschwommene Bild des Trasimener Sees auftauchte. Jetzt die Kühle des großen Wassers auf der Haut zu spüren und ganz darin unterzutauchen – eine verlockende Vorstellung, die fast übermächtig zu werden drohte.
Ein Rinnsal neben dem Weg, das er durch Zufall entdeckte, sorgte für etwas Erfrischung, doch seinen beißenden Schweißgeruch vermochte auch das provisorische Bad nicht gänzlich zu vertreiben. Im Ulmer Kloster hatte Leo die eigene Ausdünstung niemals gestört, nicht einmal während der langen Wintermonate, wenn die Brüder wegen der niedrigen Temperaturen noch mehr als sonst an Wasser gespart hatten. Doch das war jetzt, seitdem er die Alpen überquert hatte, anders. In diesem heiteren, sonnigen Land, wo ein Großteil des Lebens sich im Freien abspielte, schienen die Menschen mehr Wert auf Wohlgerüche zu legen, das war ihm schon in den ersten Tagen aufgefallen.
Unwillkürlich schlich sich wieder Stellas zarter Duft in seine Nase, eine äußerst gefährliche Erinnerung, wie er aus Erfahrung wusste, gegen die er allerdings machtlos war. Hätte er nicht doch besser seine zweite Kutte mit auf Wanderschaft nehmen sollen?
Verschiedene Fraktionen von Franziskanern hatten sich über diese Frage seit Jahren heillos zerstritten, doch sein Ulmer Kloster war bislang der gemäßigten Meinung gefolgt und hatte folglich den Besitz zweier Hosen und Kutten
erlaubt. Leo jedoch strebte an, dem Heiligen und seiner einfachen Lebensart so nah wie möglich zu sein – mit vielfältigen
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