Braut von Assisi
keine Menschen mehr anzufallen? Nun war er natürlich kein Heiliger und nicht in der Lage, Wunder zu wirken, doch die Kreaturen Gottes zu lieben, galt allen Franziskanern als höchstes Gebot. Vielleicht gelang es ihm, das Tier friedlicher zu stimmen, wenn er es ansprach, wie einst Franziskus es getan hatte. Auf keinen Fall wollte er feige sein und der Herausforderung ausweichen.
»Bruder Hund …«, begann Leo zögernd und hielt dann zweifelnd inne. Konnte das Tier ihn überhaupt verstehen, wo es doch sein ganzes Leben sicherlich kein einziges deutsches Wort gehört hatte? »Fratello cane« , versuchte er auf Italienisch erneut sein Glück, um einiges zaghafter allerdings, denn der Hund hatte mittlerweile die Lefzen zurückgezogen und stellte gelbliche Fänge zur Schau, die in Leos Augen verdächtige Ähnlichkeit mit einem Wolfsgebiss hatten. »Voglio …«
Der Hund sprang ihn an und biss zu.
Mit einem Schmerzensschrei versuchte Leo, den wütenden Angreifer loszuwerden, der mit dem ganzen Gewicht an seinem linken Schenkel hing. Er packte den Hund am Genick, schüttelte ihn hin und her, doch die Zähne des Köters wühlten sich noch tiefer in Leos Fleisch, bis ein gellender Pfiff ertönte. Noch immer knurrend, ließ das Tier sichtlich widerwillig von seinem Opfer ab, setzte ein Stück zurück und lief schließlich zum Haus.
Halb betäubt vor Schmerzen, sah Leo ihm nach. Erst
dann wagte er, an sich hinabzuschauen. Kutte und Hose waren zerfetzt. Oberhalb des Knies klaffte offenes Fleisch, eine große, unregelmäßige Wunde, die heftig blutete. In seinen Ohren begann es zu rauschen. Hitze stürzte auf ihn wie ein Bleilot. Leo suchte vergeblich nach einem Halt, doch da war nichts als dieser staubige, gottverlassene Weg, auf dem verstreut einige graue Steine lagen, die nun viel zu schnell auf ihn zukamen.
»Du kitzelst mich!«, rief Ilaria juchzend.
»Das wollte ich nicht.« Stella bemühte sich, ihre Finger ruhiger zu halten. Sie plagte sich gerade mit dem himmelblauen Mieder des Brautkleids ab, wo ein Dutzend seidener Bänder durch ebenso viele winzige, sorgsam umstickte Ösen gezogen werden mussten, damit es richtig saß. Ich werde gar nichts fühlen, hatte sie sich gelobt, als der Schlüssel sich im Schloss gedreht hatte und Simonetta sie mit versteinertem Gesicht hinausgelassen hatte. Dann kann mir auch nichts wehtun.
Doch der Vorsatz war weitaus einfacher gewesen als die Durchführung, das spürte sie jetzt. Die verliebte Schwester in all ihrer freudigen Aufgelöstheit zu erleben, berührte sie tiefer, als sie es vermutet hatte. Sie gönnte Ilaria ihr strahlendes Glück von ganzem Herzen – und fühlte sich gleichzeitig einsamer denn je.
Wer war sie? Und wohin gehörte sie?
Die Fragen, die seit Tagen unablässig in ihrem Kopf kreisten, überfielen sie beim Anblick der lieblichen Braut mit ungeahnter Macht aufs Neue.
»Du schwindelst. Das war absichtlich«, beharrte Ilaria. »Du hast mich schon immer gern gekitzelt, auch früher, als wir noch ganz klein waren. Weißt du das denn nicht mehr?«
Auf einmal war Stella der neckische Tonfall unerträglich. Konnte es ihrer Schwester denn gänzlich gleichgültig sein, dass man sie schon bald wieder ins Ammenzimmer sperren würde, während Ilaria in prachtvollem Rahmen Hochzeit feierte? War das Band schon so lose geworden, das sie einst unzertrennlich miteinander verknüpft hatte?
Sie hob den Kopf, den sie für diesen besonderen Tag mit einer einfachen Haube verhüllt hatte, um niemanden mit ihrem abgesäbelten Haar zu provozieren, und begegnete Ilarias Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, so etwas wie schlechtes Gewissen in den blauen Augen zu erkennen, genau die Art von Scham, die für die Schwester typisch war, wenn sie gelogen oder etwas ausgefressen hatte. Doch der Ausdruck verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war.
»Ich will dich doch nur ein wenig aufheitern«, sagte Ilaria und griff nach Stellas Hand. »Mach es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist! Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie lange ich Mamma beknien musste, damit sie dich herauslässt?« Die Zungenspitze erschien zwischen ihren rosigen Lippen. »›Sonst heirate ich nicht!‹ So weit musste ich gehen, stell dir das vor! ›Nur wenn Stella mir ins Brautkleid helfen darf, trete ich mit Federico vor den Altar – basta !‹«
»Ich weiß doch, dass du es immer gut meinst«, sagte Stella und zurrte die Bänder noch fester. »Aber es ändert trotzdem nichts an
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