Brautflug
anthrazitfarbenen Sakko, das Esthers Eindruck nach nicht nach neuseeländischer Machart aussieht. Sie hat das starke Gefühl, dass sie diesen Mann heute Morgen hinter einer Zeitung im Hotel hat sitzen sehen, denn das Sakko ist ihr bereits dort aufgefallen. Das Mädchen und er haben eine gewisse Ähnlichkeit, er wird wohl ihr Vater sein. Ganz offensichtlich ist das Mädchen keine Bekannte der anderen jungen Leute, denn sie erntet neugierige Blicke, das Interesse der jungen Männer ist geweckt. Das Mädchen ist sich dessen bewusst, denn in ihren Augen blitzt etwas Kühnes auf, während sie suchend durch den Saal wandern. Kris manövriert sich selbst in die Nähe der neu angekommenen Gäste. Dieses Spiel, denkt Esther, dieses herrliche Spiel. Sie kann ihre Augen nicht von dem Mädchen lassen. Es ist, als würde sie sich selbst dort stehen sehen, vor langer Zeit. Und als könnte sie das Kind von damals noch retten, schließt sie ergriffen die Augen und spricht einen Wunsch für diese jungen Menschen aus, direkt vom verwitterten Boden ihres Herzens. Auf der anderen Seite des Sofas rutscht Marjorie unruhig hin und her, Esther spürt das Sofa unter ihrem Gewicht ächzen. Als sie die Augen öffnet, winkt das Mädchen in ihre Richtung, mit verhaltenen Bewegungen, aber unverkennbar und mit sichtlicher Freude auf dem Gesicht, als würde sie sie nach langer Zeit wiedersehen. Auch der Mann schaut mit einem breiten Lächeln in ihre Richtung. Doch Esther kennt diese Menschen nicht. Sie schaut hinter sich, um herauszufinden, wer gemeint ist. Marjorie winkt nun ebenfalls.
Sie gehören zu Marjorie.
Der Raum stürzt nach hinten weg, die Ansprachen verschwimmen in der Ferne, Esthers Kopf fällt kraftlos nach vorn, und ihre Augen suchen auf ihren Schuhspitzen Halt, die scheinbar kilometerweit von ihr entfernt irgendwo auf dem Boden abgestellt wurden. »Wer sind die Leute?«, hört sie Ada flüstern. »Das ist mein Sohn«, flüstert Marjorie zurück, »und meine jüngste Enkelin.« Ada stößt einen Piepser aus, den Esther von früher erkennt. »Ach, wie schön!« Um sie herum wird um Ruhe gebeten.
Als sie endlich draußen sind, nachdem sie sich zusammen mit dem Strom von Gästen aus der Halle herausgeschoben haben, fliegt Hannah ihrer Oma um den Hals. Marjorie hält ihren Gipsarm so weit wie möglich von sich weg, damit er nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie klemmt den linken Arm um den dünnen Körper herum. »Mein Mädchen, was bist du dürr geworden. Und du riechst nach Pferden.« Über die Schulter ihrer Lieblingsenkelin hinweg behält sie Esther scharf im Blick, die ein Stück weiter emsig damit zugange ist, ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche zu kramen. Hannah setzt einen Schritt zurück und streckt ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern aus. Die Handflächen sind orangegelb verfärbt. »Guck mal«, sagt sie triumphierend, »von den Zügeln.«
Ada ist in ihrer Nähe geblieben. Sie kennt hier sonst niemanden und fürchtet sich vor dem, was hiernach folgt, dem Begraben. Marjorie stellt ihr Hannah vor. »Sie sollte eigentlich ein Jahr lang durch Australien reisen«, erklärte sie, »mal hier arbeiten, mal dort, aber sie ist monatelang auf einem Pferdehof irgendwo im
Bush
hängengeblieben. Und wenn du mich fragst, nicht nur der Pferde wegen.« Hannah lacht, ein tiefes, heiseres Lachen. Sie erzählt Ada, wie sie morgens auf nackten Füßen durch den Fluss gewatet ist, um die Pferde zu holen, wie sie mit Gruppen von Japanern, von denen manche noch nie auf einem Pferd gesessen hatten, durch den Busch geritten ist. Sie sagt, dass sie Neuseeland auch gerne sehen will, »ich habe noch vier Monate.« Ihre Augen wandern zu Kris, der ein Stück weiter bei seinen Freunden steht.
Wie selbstbewusst und frei sie sind.
Esther kann ihr Feuerzeug nicht finden. Es ist, als würden ihre Augen keine Meldungen weitergeben, als würden ihre Finger kein Gefühl haben. Dann schiebt sich ein anthrazitfarbener Ärmel in ihr Blickfeld, und ihr wird eine kleine Flamme unter die Nase gehalten. Jetzt hat sie ein wirkliches Problem. Sie zittert so sehr, dass sie befürchtet, die Zigarette nicht auf normale Weise in den Mund zu bekommen, geschweige denn, sie in die Flamme zu halten. Sie stützt ihren rechten Ellenbogen mit aller Kraft in die Seite und hält mit der linken das rechte Handgelenk fest. Bevor die Zigarette zwischen ihren Fingern allzu sehr hin- und herschwankt, beißen sich ihre Zähne in dem Filter fest. So gelingt es ihr,
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