Brautflug
sagte: »Erst in der Ehe wird man eine wirkliche Frau.«
Das hatte sie aus den Büchern
Mädchen, du musst lernen
und
Mädchen, hör mal zu
. Fiebrig lehnte sie auf ihre Ellenbogen gestützt im Bett und spekulierte lautstark über die Praxis von dem, was zwischen den Zeilen auf diesen Seiten suggeriert wurde, alles in den verschleierten Worten eines katholischen Mädchens. Esther tat so, als würde sie davon rein gar nichts verstehen. Sie konnte nicht mehr nachdenken. Sie bekam das Gefühl, ihre Gedanken würden sich in Metern von Brautschleier verstricken, und es begann, sie zutiefst zu langweilen. Um ein Haar verschnitt sie den Volant, so schwindelig wurde ihr davon. In einer Nacht schrak sie nach Luft schnappend aus einem Albtraum auf. Sie war am Ertrinken gewesen und zappelte herum, um nach oben zu kommen, doch die Wasseroberfläche schien mit Schichten aus Gaze hermetisch abgeschlossen zu sein. Daraufhin beschloss sie, das Kostüm fertig zu machen, während Marjorie schlief. In nächtlicher Stille, vornüber gebeugt unter einer kleinen Lampe, konnte sie endlich all ihre Aufmerksamkeit den schrägen Paspeltaschen widmen, die dann auch perfekt wurden.
Angesteckt von Hans und Marjorie, fing Leon an zu drängen. An einem Sonntag lehnte er am Türpfosten und starrte trübselig auf seine zukünftige Frau, die umringt von Stoff, Stoffmusterteilen und farbigen Skizzen hinter der Nähmaschine saß und ihn keines Blickes würdigte. Sie tat dies nicht aus Abneigung, sondern aus Zeitmangel, denn ihre Kundin hatte verlauten lassen, dass sie das neue Kostüm gerne zu Weihnachten tragen würde. Über einem Stuhl hing ihr eigenes Brautkleid aus Satin, das sie hervorgeholt hatte, um es zu flicken. Sie hatte einfach noch keine Zeit dazu gehabt.
»Wenn wir heiraten, finden wir schneller eine Wohnung«, sagte er.
»Lass uns uns doch erst einmal aneinander gewöhnen.«
»Wann denn? Du hast ja nie Zeit.«
»Daran musst du dich gewöhnen«, erwiderte sie lässig und klappte das Füßchen der Nähmaschine hoch und zog am Faden.
»Aber das wird doch nicht so bleiben?«
Sie sah ihn an. »Wie meinst du das?« Locker bleiben.
»Wenn wir verheiratet sind, meine ich.«
»Willst du dann nicht mehr?« Locker bleiben, als wäre es ein Witz.
Er antwortete nicht. Er ging zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Sie sah auf seinen Rücken, durchaus ein anziehender Rücken. Und doch standen bei ihr die Alarmleuchten weiterhin auf Rot, Gefahr. Keine Ahnung, warum. Er drehte sich um und zeigte auf den Satin, der kränkelnd im Wartezimmer hing.
»Ist das … dein Brautkleid?«
Sofort war sie sich ihrer Nonchalance bewusst. Ein Bräutigam darf das Brautkleid nicht sehen. Marjorie hatte die Zeitschrift mit einiger Selbstbeherrschung Hans vorenthalten. Sie hatte nicht einen Moment daran gedacht.
»Diese Begeisterung, wunderbar …«, sagte sie. Dieses Gespräch war alles andere als erfreulich. Es folgte lange Zeit Stille. Sie traute sich nicht aufzusehen, fummelte etwas mit einem festgelaufenen Spulfaden herum, hörte ihn den Rauch ausblasen und spürte seine Augen auf sich gerichtet. Eigentlich war er ein ewiger Nörgler. Er stand dort und beschuldigte sie im Stillen, verdammt nochmal, wenn sie etwas nicht leiden konnte, wenn sie etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Aber es blieb still.
»Esther«, sagte er dann in einem tiefsinnigen Tonfall, den sie schon gar nicht ertragen konnte, so ein Wir-sind-das-Volk-Israel-Ton. »Esther, was bedeutet heiraten für dich?«
Sie sprang auf, sah sich aus der Distanz, hörte sich schreien. Der Hocker fiel um. »Heiraten! Heiraten! Ich kann das Wort nicht mehr hören!« Sie riss in einer Bewegung das cremefarbene Kleid vom Stuhl, zog die Schranktür auf und stopfte es mit brüsken Bewegungen ganz nach hinten hinein. Sie warf die Tür zu. Schluss mit der Vorstellung. Keuchend drehte sie sich zu Leon um, riss die Augen weit auf, um aufrichtige und nachvollziehbare Entrüstung zu demonstrieren. »Können wir vielleicht auch noch über irgendetwas anderes reden?« Ein hartes Lachen entwich ihrer Kehle. Ein unheimliches Lachen.
Er starrte sie perplex an. Er sieht eine fremde Frau, dachte sie, eine mit hässlichen, harten Gesichtszügen und einem Mund, aus dem zynische Klänge kommen. Etwas Wässriges und Trauriges brodelte aus ihrer Brust herauf, sie konnte nicht aufhören, fiel mit fuchtelnden Armen auf ihren Hocker nieder und gab ihm ein Zeichen, dass er kurz weggehen sollte. Das war
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