Breed: Roman (German Edition)
gotische Fenster. Die Schule sieht aus, als wäre sie in New Haven, Connecticut, erbaut worden und dann irgendwie vom Campus der Yale University hierhergetrieben, um sich schließlich an einem passenden Fleck der Upper East Side niederzulassen. Das Gebäude drückt Tradition aus, Privileg, Bildung und eine große Ernsthaftigkeit – anders gesagt, es verkündet Kindheit ohne Kindlichkeit. Direkt gegenüber dieser ehrwürdigen Privatinstitution steht eine öffentliche Schule aus hellen Ziegeln, deren Fenster im Erdgeschoss mit grünlichen Pseudofliesen gerahmt sind. Wegen der schiefen Jalousien scheinen diese Fenster allesamt zu schielen. Neben der öffentlichen Schule ist ein großer, asphaltierter Spielplatz, auf dem Hunderte Kinder, gekleidet in jeder erdenklichen Farbe und jedem möglichen Stil von Jeans bis Djellabas sich fröhlich begrüßen, während sie auf den Eingang zuströmen, bevor die Morgenglocke läutet.
»Kann ich dich was fragen?«, sagt Adam.
»Aber natürlich, mein Schatz«, sagt Leslie. Sie zieht ihn zu sich heran und drückt ihm einen Kuss auf den Scheitel.
Er kann hören, wie sie den Duft seiner Kopfhaut einatmet. Das lässt ihn erzittern, obwohl er weiß, dass es nur ihre Art und Weise ist, ihn zu lieben.
»Wieso müssen wir nachts eingesperrt werden?«
»Das schon wieder?«, fragt seine Mutter.
»Wir wollen nicht mehr eingesperrt sein«, sagt Adam.
»Das wird nicht immer so bleiben«, sagt Leslie.
»Ich verstehe es einfach nicht«, sagt Adam.
»Ich auch nicht«, sagt Alice.
»Damit wir euch nicht auffressen«, sagt Leslie und zaust mit der rechten Hand Adams Haar. Das sagt sie, als wäre es ein Scherz, aber es klingt wie das Wahrste, was sie je zu ihnen gesagt hat.
Als Alex und Leslie die Zwillinge in der Schule angemeldet haben, hat das Direktorat sich alle Mühe gegeben, dafür zu sorgen, dass die beiden Kinder nicht in dieselbe Klasse kommen. Man war der Meinung, es sei zwar wunderbar und schön, ein Zwilling zu sein, aber das sei auch etwas, was solche Kinder überwinden oder kompensieren müssten. Je mehr Zeit die beiden also getrennt verbringen würden, desto besser würden sie lernen können, desto mehr Freunde würden sie gewinnen, und desto mehr Chancen hätten sie, sich zu autonomen, gut angepassten Erwachsenen zu entwickeln. Voneinander getrennt, scheinen die Zwillinge sich jedoch nacheinander zu sehnen, und keiner der beiden hat besonderen sozialen Erfolg gehabt. Sie sind keine Außenseiter und werden auch nicht gehänselt oder ausgeschlossen, es stellt sich einfach kein richtiger Kontakt zwischen ihnen und ihren Mitschülern her. Sie sind verschlossen, schläfrig, mundfaul – sie sehen wie traurige Kinder aus.
Heute trottet Alice mit ihrem Biologiekurs durch den Central Park. Die Lehrerin, Edie Delaney, behauptet steif und fest, auf einem Hektar des Central Park könne man mehr Natur beobachten als auf einem Hektar der Serengeti. Allerdings raucht sie auch gern zwischendrin eine Marlboro Light, während sie diese angeblich lehrreichen Expeditionen leitet.
»Also«, verkündet Edie Delaney, während sie in der Tasche ihres Trenchcoats mit ihrem Bic-Feuerzeug spielt, »heute haben wir Folgendes vor. Erinnert ihr euch noch an die hundert Jahre alte Platane, die wir Anfang des Jahres gesehen haben?« Sie deutet auf den etwa dreißig Meter entfernten Baum, dessen grün, gelb und schwarz gescheckte Rinde wie ein Tarnanzug aussieht. Er schwebt in einem Meer aus Blättern, die von ihm abgefallen sind. »Habt ihr alle euer Notizbuch dabei? Na?« Die vierzehn Kinder in ihrem Kurs heben die Hände. »Toll. Dann versammelt euch jetzt um den Baum und macht die beste Zeichnung, die ihr hinbekommt. Alles klar?«
Man sieht sie mit gewisser Skepsis an, bis Jeremy, dessen Vater ein Scheidungsanwalt mit dem Spitznamen
Piranha der Park Avenue
ist, vortritt und sagt: »Wir sind jetzt aber nicht in Kunst, oder?«
»Nein, das sind wir nicht, Jeremy, und das ist ein ausgezeichnetes Argument. Dies ist ein Biologiekurs, und ein sehr wichtiger Aspekt dieser Wissenschaft ist die Beobachtung.« Edie nimmt einen tiefen Atemzug; ihre Lunge freut sich auf eine Wolke nikotinreichen Rauch und scheint schrecklich enttäuscht zu sein, nur Luft zu erhalten. »Deshalb sollt ihr jetzt
beobachten und aufzeichnen
.«
Wenig später zieht Edie sich zu einer nahen Parkbank zurück, auf der sie sich so postiert, dass sie einige Male tief an ihrer Zigarette ziehen und sich dabei zumindest vormachen kann,
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