Breed: Roman (German Edition)
Duft der großstädtischen Dunkelheit – haften noch am Haar des Jungen. Seine Nähe hat etwas an sich, was Michael plötzlich einen Schrecken einjagt.
»Aber ich kann nicht nach Hause«, sagt Adam. Er senkt den Kopf und ballt die Fäuste.
»Dann musst du mir erzählen, warum. Wenn dort etwas vor sich geht – ich meine, wenn etwas geschieht, was dir solche Angst einjagt –, dann muss ich das wissen. Verstehst du das?«
»Nein, nein«, sagt Adam rasch. Er wedelt mit der Hand, wie um die Idee zu verscheuen, es handle sich um Kindesmissbrauch. »Darum geht es nicht.«
»Worum denn dann?«
»Sie sind fort.«
»Fort?«
Adam zögert, bevor er den Kopf schüttelt. »Sie sind in Kanada«, sagt er.
»In Kanada?«
»Ja, in Montreal.«
»Und sie haben dich allein gelassen?«
»Ja. Mich und meine Schwester.«
»Wer kümmert sich um euch, Adam?«
»Niemand.«
Michael kneift die Augen zusammen und legt den Kopf schief. Irgendwann hat er sich auf diese Geste verlegt, um seinen Schülern die Wahrheit zu entlocken, obgleich er keine Ahnung hat, ob das funktioniert oder nicht.
»Unser Mutter hat Verwandte in Montreal«, fügt Adam hinzu.
»Verwandte.«
»Ja. Einen Bruder. Der ist der Bürgermeister oder so.«
»Dein Onkel ist der Bürgermeister von Montreal.«
»Jetzt vielleicht nicht mehr.«
»Adam. Ich muss Kontakt mit deinen Eltern aufnehmen. Und zwar sofort. Du darfst nicht hier sein, wenn niemand weiß, wo du bist.«
Adam zuckt die Achseln. »Aber sie sind nicht zu Hause.«
»Du kannst mir die Nummer ihrer Handys geben.«
»Die haben keine Handys. Außerdem braucht man einen speziellen Chip, damit die in Kanada funktionieren. Wie für Europa und anderswo.«
Xavier kommt aus der Küche – er hat sich doch nicht einfach verzogen. In den Händen hat er ein Tablett, auf dem ein Becher warmer Apfelsaft mit Zimt steht, daneben ein Teller mit einem geviertelten Erdnussbuttersandwich.
»So, das ist für dich, damit du nicht krank wirst«, sagt er mit dem grässlichsten Akzent, den Michael seit Jahren von ihm gehört hat, zu Adam.
Falls es für Adam irgendeine Bedeutung hat, einen anderen Mann in der Wohnung seines Lehrers zu sehen, falls es ihn verwirrt oder eine vorgefasste Theorie bestätigt, so verrät nichts an seinem Verhalten etwas davon. Er greift nach dem Becher und blickt dankbar zu Xavier hoch.
»Oh, danke«, sagt er. Den Becher heißen Apfelsaft in der Hand, wirft er einen Blick auf den Couchtisch. »Darf ich das auf den Tisch da stellen?«, fragt er seinen Lehrer.
»Klar«, sagt Michael. Er sieht, dass die Hände des Jungen zittern.
Adam beugt sich ein wenig vor, während er den Becher an die Lippen führt. In dem Moment, in dem er trinken will, läutet das Telefon. Bei diesem Geräusch erschrickt er so sehr, dass er ein schmerzliches kleines Jaulen von sich gibt, und seine Hände machen eine Bewegung, als wollte er damit das Gesicht verhüllen, wodurch sich fast der gesamte Inhalt des Bechers auf sein Shirt und seinen Schoß ergießt.
Michael und Xavier haben Adam ins Schlafzimmer gesteckt, wo er das erste Paar saubere Socken aus seinem Rucksack holt und sich anzieht. In Adams Abwesenheit sitzen Xavier und Michael auf dem Sofa, wagen jedoch nicht zu sprechen, aus Angst, belauscht zu werden. Stattdessen teilen sie sich ihre Bestürzung und Verwirrung durch Achselzucken und Kopfschütteln mit. Michael bildet mit den Lippen die Wörter
Es tut mir leid
, worauf Xavier kurz die Stirn runzelt und mit der Hand wedelt. Michael nimmt Xaviers Hand, verschränkt sie mit seinen Fingern und drückt sie.
Michael findet seine Klassenliste und sucht nach Adams Kontaktdaten. Angegeben sind berufliche Telefonnummern für beide Eltern und eine Privatnummer. Eine Kategorie hat man leer gelassen –
Im Notfall.
Michael wählt die Privatnummer; dort nimmt nicht nur niemand ab, es gibt auch keinen Anrufbeantworter, keine Mailbox, nur die ungewohnte Erfahrung eines unaufhörlich läutenden Telefons.
»Mr. Medoff?«, schwebt Adams Stimme aus dem Schlafzimmer.
»Ich bin da, Adam.«
»Können Sie mal rasch herkommen?«
Michael betritt das Schlafzimmer. Das Bett ist gemacht, die Kissen sind aufeinandergestapelt, auf jeder Seite steht ein Paar Schlappen, halb verborgen von der Tagesdecke. Alles sieht reinlich, fast antiseptisch aus wie in einem Kettenhotel. Es ist schummrig, da nur eine der Nachttischlampen brennt. Adam steht in der Mitte des Zimmers und hält sein T-Shirt in der Hand. Er ist mager, seine
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