Breed: Roman (German Edition)
draußen gewesen. Genauer gesagt, ist sie selbst bei Tageslicht kaum jemals irgendwo allein gewesen. In dieser Nacht ist sie jedoch durch die Straßen der Upper East Side gelaufen, vorbei an neugierigen Portiers, die ihr mit den Blicken folgen, vorbei an Restaurants, vor denen mit laufendem Motor Limousinen stehen, schwarz wie Särge, vorbei an Schmuckgeschäften und Nagelstudios, die verschlossen und vergittert sind. Bei jedem Schritt spürt sie, dass jemand nah hinter ihr ist, der ihr entweder näherkommt oder vorübergehend zurückfällt, aber sie wagt es nicht, sich umzudrehen. Sie spürt, wie jemand übers Pflaster stampft, die Hände ausstreckt und versucht, sie zu packen und nach Hause zurückzuschleppen, was mehr wäre, als sie ertragen könnte. Es wäre ihr Ende.
Sie trägt Jeans, Nike-Sneakers, einen schwarzen Skiparka und eine peruanische Wollmütze in Rot, Orange und Blau. In ihren Rucksack, der zu voll ist, um richtig geschlossen werden zu können, hat sie hastig Kleidung, Schulaufgaben, eine Packung Aufschnitt und das Handy gestopft, das sie verwendet, um mit ihrem Bruder zu kommunizieren. Als sie plötzlich stehenbleibt, fliegt das Telefon aus dem Rucksack. Mit einem klappernden Geräusch schlägt es auf dem Gehweg auf und rutscht dann, sich wie irre drehend, auf die Straße, wo es sogleich unter die Räder eines Lieferwagens kommt, der noch zu dieser späten Stunde Einkäufe ausfährt. Als Nächstes rollt ein Taxi drüber, dann ein Wagen der Strom-und Gasversorgung, dann ein weiteres Taxi und dann noch ein Taxi. Alle fügen dem Handy Schaden zu, doch das war sicher schon beim Aufprall erledigt.
Da sie nun kein Telefon mehr hat, kommt es ihr vor, als wäre Adam verschwunden. Sie hat nur einen klaren Gedanken:
Der Park!
Obwohl sie nicht einmal sicher ist, weshalb ihr der Central Park momentan als der einzige sichere Ort in der Stadt erscheint, sehnt sie sich nach der duftenden Dunkelheit der weiten, schlafenden Rasenflächen, nach den Bäumen, den Schatten, den Tunneln und Felsen, den zahllosen geheimen Orten.
Sie
weiß
, dass sie nicht allein ist. Sie spürt, wie sie beobachtet wird. Sie sieht sich um. Aus einer offenen Grube in der Straßenmitte, in der etwas repariert wird, steigt Rauch auf, erleuchtet von einem großen, gelben Scheinwerfer, der pulsiert wie ein angstvolles Herz. Die Haut von Alice fühlt sich schrecklich lebendig an. Ihre Gedanken jagen, nicht besser voneinander unterscheidbar als Schneeflocken in einem Wintersturm. Sie sieht eine Gestalt aus dem Rauch auftauchen.
Lauf!
, sagt sie sich, doch ihre Beine sind schwer, und als sie sie endlich in Gang bringt, stolpert sie sofort.
Aber es ist gar nicht ihre Mutter. Es ist ein Obdachloser, der einen von Dosen und Flaschen überquellenden Einkaufswagen schiebt. Das Klappern seiner Beute hallt durch die Nacht.
An der Sixty-Fifth Street betritt sie den Park, indem sie über die niedrige Steinmauer springt. Dann trottet sie durch das mit Reif bedeckte Laub. Sie spürt einen heftigen Drang, sich zu erleichtern, aber das kann sie jetzt absolut nicht tun, auf gar keinen Fall.
In der Nähe befindet sich ein Spielplatz für kleine Kinder. Auf einem Spielplatz wird sie bestimmt nicht pinkeln. Alice erinnert sich, dass sie mit Adam hierhergekommen ist, als sie beide noch klein waren, immer entweder mit ihrer Mutter oder ihrem Vater und einer Nanny im Schlepptau. An die erinnert sie sich alle, an die Parade auftauchender und verschwindender Nannys, aber sie erinnert sich nur undeutlich an sie, wie an Lieder, die sie nur ein-oder zweimal vor langer Zeit gehört hat. Sie haben Pilar, Sonia, Mercedes, Erin geheißen. Es gab eine Mrs. Calhoun, Susana, Susan, Sue und Sue Ellen, und dann war da noch Cher mit ihrer tiefgebräunten Haut und ihren kobaltblauen Augen, so blau wie die Landescheinwerfer am Flughafen. Die war im einen Moment total ausgelassen und im nächsten wie vor den Kopf geschlagen durch irgendein privates Unglück, und später stellte sich heraus, dass sie ein Mann war – Adam hat ihn auf der Toilette eines Pizzaladens beim Pinkeln beobachtet.
Mit jeder Nanny kam schlagartig ein Gefühl von Freude, Helligkeit und Heiterkeit ins Haus, aber sie waren alle nur vorübergehend da. Manche von ihnen haben es geschafft, sich mit entschuldigenden Worten rasch bei den Zwillingen zu verabschieden, andere sind einfach verschwunden, und nun, da Alice am schmiedeeisernen Tor des Spielplatzes steht und zusieht, wie die leeren Schaukeln sich im
Weitere Kostenlose Bücher