Breed: Roman (German Edition)
Amélie.
»Ja.«
»So schwer.«
»Allein«, sagt er. »Allein.«
»Das Mädchen«, sagt Amélie.
»Mmm. Nett zu mir.«
»Mit dem Muttermal.«
»Nett.«
»Hast sie dir gesagt, wie sie heißt?« Sie kennt die Antwort, denn sie hat oft an die beiden gedacht, mit denen dieses arme Ding geboren wurde. Sie weiß sogar, wo die Zwillinge leben – mehrere Male hat sie der Versuchung nachgegeben, an ihrem Haus vorbeizugehen, und einmal hat sie die beiden sogar gesehen, als sie von ihrer Mutter zur Schule gebracht wurden.
»Also hast du mit deiner neuen Freundin gesprochen?«
»Hab keine Freunde. Bloß dich, Mama.«
»Ich weiß, Kleines, Mama weiß Bescheid.«
»Mama.«
»Es ist so schwer, nicht wahr?«
»So schwer.«
»Jeden Tag«, sagt Amélie.
»Schwer.«
»Und es wird immer schwerer, nicht wahr, Kleines?«
»Hab Angst.«
»So schwer, das Leben ist so schwer.«
»Hab Angst, Mama.«
»Schhh.« Amélie steckt die Hand in die Tasche ihres Schwesternkittels und berührt das Fläschchen, das sie seit Tagen mit sich herumträgt: Hydromorphon. Langsam schließen ihre Finger sich um das kühle Glas. Den ganzen Tag, die ganze Woche hat sie darüber nachgedacht. Ursprünglich hatte sie vor, dreißig Tropfen auf Bernards Zunge zu träufeln und den Rest selbst zu trinken. Nun jedoch wandern ihre Gedanken in eine andere Richtung.
»Ich hab etwas für dich«, sagt sie. »Es schmeckt ein wenig eklig, aber danach fühlst du dich besser.«
Er blickt sie hoffnungsvoll an. »Njam, njam.«
»Streck die Zunge heraus.« Sie nimmt das Fläschchen mit synthetischem Morphin aus der Tasche und zeigt es ihm.
Vertrauensvoll streckt Bernard seine Zunge aus dem kurzen Strich seines Mundes. Sie ist kurz und fast rechteckig.
»Mama hat dich lieb.«
»Mmm«, macht er.
»Das weißt du doch, oder?«
Es wäre leichter zu sterben, für sie beide. Aber das darf sie nicht, das wird sie nicht tun. Das Leben muss geschützt werden, das ist das Wichtigste.
»Wenn du das nimmst, fühlst du dich viel besser. Okay? Tut nicht weh. Nur ein wunderschöner Schlaf.«
»’kay.«
Mit einer Hand tätschelt sie seine schweißgetränkte Stirn, während sie mit Daumen und Zeigefinger der anderen geschickt die Kappe des Fläschchens abschraubt. Die Kappe fällt zu Boden und rollt unter Bernards Bett.
»Kannst du den Mund noch weiter aufmachen?«
»Mmm.«
Sie schüttelt das Fläschchen über seiner Zunge.
»Igitt, igitt«, jammert er.
Alex hat getan, was er konnte, um Adam zu erwischen, es jedoch nicht geschafft, ihn aufzuspüren, und nun kehrt er niedergeschlagen nach Hause zurück, wo er Leslie vorfindet, die nicht mehr Glück damit gehabt hat, Alice zu finden.
Sie sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Dort, wo sie sich nun fläzt, hat einmal eine wertvolle – sehr wertvolle! – Polsterbank aus Kirschholz und Rosshaar gestanden, die durch ein sehr, sehr legeres Möbel ersetzt wurde, das sie neulich im Gebrauchtwarenladen der Aids-und Obdachlosenhilfe mitgenommen haben. Es ist ein Sofa mit karamell-und vanillefarbenem Muster, das immer noch leicht nach den Patschuli-Räucherstäbchen riecht, die seine früheren Besitzer abgebrannt haben. Das Polster befindet sich bereits in Auflösung. Eigentlich trifft das auf viele ihrer Möbel zu, und da sie sich bewusst sind, wie grob sie mit ihrem Eigentum umgehen, ist es immer ein Kampf zwischen der Notwendigkeit, rasch etwas zur Deckung des Geldbedarfs zu verkaufen, und dem Bedürfnis, die alten Dinge zu behalten, um die Verbindung zu bewahren, die dadurch zu ihrem früheren Leben besteht. Vor nicht allzu langer Zeit ist Alex die Rolle zugefallen, kalt und realistisch mit ihren einst so schönen Besitztümern umzugehen, während Leslie sich gewehrt und oft gefeilscht hat wie ein Kind. Sie hat versprochen, vorsichtiger mit allem umzugehen, und weinerlich gesagt, wie wichtig die Antiquitäten für sie seien – obwohl sie früher oft geklagt hat, das Mobiliar sei unbequem, die Gemälde wirkten bedrückend, und bei den diversen Ziergegenständen dächte sie an das Bühnenbild von Agatha Christies
Mausefalle
.
»Ich habe Angst«, sagt Leslie im Liegen. Sie ist mit einer Häkeldecke verhüllt und blickt starr auf einen großen Wasserfleck an der Zimmerdecke.
»Die kommen schon wieder«, sagt Alex.
»Sie wissen doch gar nicht, was sie da draußen tun sollen. Womöglich tut ihnen jemand weh.«
»Das wird bestimmt niemand tun«, sagt Alex. Er lässt sich in einen Armsessel fallen, der mit einem Laken
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