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Breed: Roman (German Edition)

Breed: Roman (German Edition)

Titel: Breed: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chase Novak
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nicht einmal darum gekümmert, den Reißverschluss seiner dünnen Jacke zu schließen. Michael verzichtet darauf, ihm zu sagen, er solle sich vor der Kälte schützen. Heutzutage macht offenbar kein Junge mehr seine Jacke zu, die wollen alle tough aussehen.
    Während sie die Treppe zur U-Bahn hinuntergehen, umgeben von anderen frühen Fahrgästen, spürt Michael plötzlich, dass der Junge etwas Törichtes tun könnte. Er ergreift Adam am Arm, nicht fest, aber mit genügend Kraft, um den Jungen daran zu erinnern, dass er unter Kontrolle ist. Den scheint diese Berührung jedoch zu elektrisieren, und er dreht sich von Michael weg.
    »Ganz ruhig«, sagt Michael, aber als er Adam einen mahnenden Blick zuwirft, verengen sich die Augen des Jungen, und seine Lippen öffnen sich. Zwei Reihen strahlend weißer Zähne werden sichtbar. Zu weiß. Zu scharf. Ihr Anblick bringt Michael vorübergehend durcheinander, und er stolpert auf der Treppe. Als er das Gleichgewicht wiedergewinnt, indem er sich am Geländer festhält, hat Adam sich bereits losgerissen und umgedreht. Nun springt er davon, fast so, als würde er fliegen.
    »Adam!«, ruft Michael. Etwa die Hälfte der wohl dreißig Menschen auf der Treppe zeigt ein gewisses Interesse an der Aufregung, die Michael verursacht, während die anderen entweder nichts hören oder mit ihren eigenen Schwierigkeiten beschäftigt sind. Vielleicht hören sie auch etwas und sind besorgt, haben sich jedoch durch das Leben in der Stadt angewöhnt, immer so wenig wie möglich zu erkennen zu geben.
    Michael läuft hinter dem Jungen her. Er hat keine Wahl. Eine Chance hat er auch nicht. Er sieht, wie Adam in die Menge auf der Twenty-Third-Street eintaucht, in absolut unglaublichem Tempo hierhin und dorthin flitzt – und dann rennt der Junge zu Michaels Entsetzen auf die stark befahrene Straße, um zu dem düsteren Grün eines kleinen Parks gegenüber zu gelangen. Ein ramponierter Lastwagen, der große Glasscheiben transportiert, bremst scharf ab, um Adam nicht zu überfahren, und der springt in die Höhe, als hätte er Flügel an den Fersen. Er landet auf der Kühlerhaube des Lasters, die er als Plattform verwendet, um über die Straße zu springen. Und zu verschwinden.
    »Haben Sie das gesehen?«, sagt ein gut vierzigjähriger Mann mit Kaschmirmantel und nagelneuer Baseballcap zu Michael. »Ich würde meinen Sparstrumpf darauf wetten, dass der Knabe da sich einen dieser Energiedrinks reingeschüttet hat.«
     
    Als Michael an der Schule ankommt, besprüht ein kalter, steter Nieselregen die Straßen und die parkenden Autos. Bis zum Beginn des Unterrichts sind es noch einige Minuten; die meisten jüngeren Schüler sind schon da, abgeliefert von Nannys, die noch andere Pflichten zu erledigen haben, oder von ihren Eltern, deren Gesichter im gespenstischen Licht ihrer Smartphones starr und sorgenvoll aussehen. Sie müssen sich beeilen, weil sie schon früh am Vormittag irgendwelche Sitzungen zu leiten haben. »Die halten ihre Handys vors Gesicht wie Hamlet, wenn er zu Yoricks Schädel spricht«, hat Michael einmal zu Xavier gesagt. Bei diesem Gedanken greift Michael mit der Hand reflexartig in seine Tasche, wo er sein eigenes Telefon findet und zum zehnten Mal an diesem Morgen die Mobilfunknummer seines Freundes wählt.
    »Da sind Sie ja!«, ruft Davis Fleming, der Direktor. Fleming ist groß und dick, sieht mit seinem breiten Lächeln, seiner sauber gereinigten Haut und seinem silbernen Haar wie ein fülliger Junge aus, der bei einer Schulaufführung den Vater spielt. Bereits der Großvater und beide Eltern von Fleming haben diese Schule besucht, er selbst natürlich auch. Er lebt in einer schuleigenen Wohnung gleich nebenan und hat sich nie weiter als zehn Meilen von deren Fluren entfernt, abgesehen von seinem Studium und einer Reise auf eine Insel vor der Küste von South Carolina, wo er mit seiner Frau (ebenfalls eine frühere Schülerin, Abschluss 1983 ) Flitterwochen gemacht hat. Trotz seiner lebhaften Miene und seines wie immer unverrückbaren Lächelns liegt Ärger in Flemings Stimme, und seine Hand fühlt sich ein wenig stählern an, als er Michael durch die glatte Kühle von dessen Lederjacke hindurch am Bizeps fasst.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragt Michael und passt sich dem Schritt von Fleming an, während sie über den Flur gehen, vorbei an der Vitrine mit verblassenden Fotos inzwischen betagter Schüler bei Basketballspielen, die vor einem halben Jahrhundert stattgefunden haben.

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