Brenda Joyce
begegnete.
Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er
sie ansah, und Francesca wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Montrose
verbeugte sich kurz in ihre Richtung und wandte sich dann ab.
»Guten Morgen, du Schlafmütze!«
Francesca war bereits wach, genoss die Wärme
ihres Bettes und ließ sich auf jener weichen, behaglichen Wolke zwischen
Schlaf und Bewusstsein dahintreiben. Als sie die Augen öffnete, erblickte sie
ihren Bruder, der sie von der Tür aus angrinste.
Mit einem Schlag war sie hellwach. Ein schneller
Blick durch die zur Seite geschobenen Samtvorhänge am Fenster sagte ihr, dass
es viel später als sieben Uhr sein musste – die Zeit, zu der sie für gewöhnlich
erwachte. Die Sonne stand bereits hoch am wolkenlosen Himmel. Francesca riss
die Decke weg und sprang aus dem Bett. »Wie viel Uhr ist es?«, rief sie von
Panik erfüllt, als ihr die bevorstehende Biologieprüfung einfiel.
Evan lachte. »Immer mit der Ruhe! Es ist zehn Uhr – aber heute ist
Sonntag, Fran. Heute musst du nicht zum College.« Francesca atmete erleichtert
auf, eilte dann zur Tür hinüber und schlug sie zu. »Musst du meine
Angelegenheiten im ganzen Haus herumposaunen?«
Ihr Bruder blickte sie voller Zuneigung, aber
auch voller Sorge an. »Hast du etwa die ganze Nacht gelernt?«, fragte er.
Francesca nahm einen warmen Flanell-Morgenmantel aus dem Schrank
und schlüpfte hinein. »Ja. Ich habe am Montag eine Prüfung.«
Evan lehnte sich gegen die Tür, die Hände
tief in den Taschen seiner hellbraunen Hose vergraben. »Fran, meinst
du nicht, du solltest Mama endlich die
Wahrheit sagen? So kann es doch nicht weitergehen. Du schleichst dich tagsüber
zum College davon, bleibst nachts Gott weiß wie lange auf und versuchst
dabei noch ein normales Leben zu führen!«
Sie starrte ihn an. »Bist du verrückt
geworden? Mama würde verlangen, dass ich das Studium sofort abbreche – und das
werde ich mit Sicherheit nicht tun – immerhin war es schwierig genug, das Geld
für die Studiengebühren von dir und Connie zu leihen.«
»Aber du kannst unmöglich noch lange so
weitermachen«, sagte Evan. »Ich habe noch nie erlebt, dass du so lange schläfst
– du musst ja völlig erschöpft sein.«
»Ich bin
aber nicht erschöpft«, erwiderte sie trotzig, was nicht ganz der Wahrheit
entsprach. »Evan, ich weiß, dass du um mein Wohlergehen besorgt bist, aber
glaube mir, ich bin glücklich. Ich denke nicht im Traum daran, Mama davon zu
erzählen, dass ich mich im Barnard College eingeschrieben habe.« Sie senkte
die Stimme. »Ehrlich gesagt, macht es mich schon nervös, mit dir laut über
dieses Thema zu diskutieren.«
Er erwiderte trocken: »Mama verlässt doch ihre Gemächer niemals
vor der Mittagszeit.«
»Es gibt
immer ein erstes Mal.«
Evan zuckte resigniert mit den Schultern.
»Mach, was du willst. Hast du Lust, nach dem Frühstück auszureiten? In der
Nacht hat es geschneit, und der Park wird wunderschön aussehen.«
»Lust schon, aber ...« Francesca zögerte. Sie
hatte eigentlich vorgehabt, den ganzen Tag mit Lernen zu verbringen.
»Ich verstehe schon«, sagte er mit finsterem Blick und öffnete
die Tür.
»Warte! Evan, was geht eigentlich zwischen dir und Sarah Channing
vor sich?«
Er drehte sich noch einmal zu seiner Schwester um. »Sie ist süß,
nicht wahr?«
Francesca
starrte ihn ungläubig an. »Süß?«
Evan blinzelte ihr verschwörerisch zu und
verließ das Zimmer.
Süß? Kopfschüttelnd ging Francesca ins
Badezimmer, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Ihr Bruder schien vor Liebe blind zu sein. Francesca hatte ihm gegenüber
nie erwähnt, dass sie ihn im vergangenen Sommer eines Nachmittags zufällig in
Begleitung seiner Geliebten gesehen hatte.
Die beiden waren den Broadway hinunterspaziert,
und Francesca hatte nur einen einzigen Blick auf ihren Bruder und den
hinreißenden Rotschopf an seiner Seite
geworfen und gewusst, dass sie ein Verhältnis hatten.
Francescas Nachforschungen ergaben, dass die Frau eine ziemlich
berühmte Bühnenschauspielerin namens Grace Conway
war. Wenn Evan in diese fröhliche und weltgewandte Schauspielerin verliebt
gewesen war, wie konnte es ihm nun eine Frau angetan haben, die das genaue
Gegenteil darstellte? Es war schon erstaunlich.
Francesca zog einen marineblauen,
ausgestellten Rock und eine weiße Hemdbluse an und ging nach unten. Ihr Haar
hatte sie zu einem Knoten aufgesteckt und sich nach kurzem Zögern
noch ein wenig Rouge auf Wangen und Lippen
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